Wut und Virus

Beilagen zur Diskussion für ausgefallene Sitzungen des Philo-Zirkels von Dr. R. Schönsee

Will man den Umgang der ‚Wutbürger‘ mit den Pandemievorschriften verstehen, ihre ‚Verschwörungs-Paranoia‘, den Aufschrei gegen die ‚Lügenpresse‘, die pseudoreligiöse Bindung an populistische ‚Führer‘ in der Welt der Industrieländer, muss man ihre Grundlagen aufdecken. Im Philo-Zirkel wollen wir ein philosophisches Fundament suchen, das einen Wertekonsens trägt, der eine Rückbindung an natürliche Kreisläufe für Mensch, Technik und Natur aus Achtsamkeit vornimmt. Zur Vorbereitung dienen diese Anregungen.

Die folgenden Gedanken sind wohl bekannt, gut untersucht, und vieles haben wir schon besprochen (besonders ‚Überwachungskapitalismus‘ und ‚KI‘).

Ich möchte mich dem Problem in zwei Schritten (I u. II) nähern.

I. Psychosoziale und wirtschaftliche Ursachen:

Wir erleben gerade in der Person des amerikanischen Präidenten den Typus des Herrschers, dessen Narzissmus angesichts der Kränkung seines Egos in Paranoia umschlägt. Für viele Zuschauer bleibt das Verhalten seiner Fans, der ‚Trumpisten‘, ein Rätsel. Die Frage stellt sich: Welche Korrelation besteht zwischen dem idealisierten Heros und seinen ‚Followern‘? Die weichgespülte Form finden wir bei den Anhängern der populistischen Führer. Eine spezifischere Beziehung ergibt sich aus der Betrachtung der ‚Wutbürger‘, der Verschwörungsanhänger, die etwa mit Gebrüll ‚Masken weg‘ schreien, und im Retrolook ihr Glück suchen. Ihre Identität gewinnen sie durch die Ausgrenzung des ‚Anderen‘, und wollen z.B. als ‚Reichsbürger’ leben. Sie wollen ‚ihren Kaiser Wilhelm wieder haben‘, der sie ‚herrlichen Zeiten entgegen führen‘ soll, so wie Trump seinen Anhang vom grenzenlosen Machtgebilde ‚Amerika‘ träumen lässt.

Ich nähere mich dem Problem in dreizehn Schritten.

    1. Gelingt die psychische Ausbildung des ‚Realitätsprinzips‘ nicht, so kann die Ich-Bildung auch im Erwachsenen auf ein infantiles Stadium zurückfallen, wenn Stress oder Panik dazu Anlass geben. Verweigerung der Realität kann zur euphorischen Flucht in die Allmachtsphantasien des Narzissmus führen, der auf diese Weise seinen phobischen Komplex bewahrt. Auch Kollektive können in der Fixierung auf ein kontrafaktisches Kollektivideal ihre Selbstidealisierung als Korsett benutzen, um auf diese Weise die reale Welt als Feind auszugrenzen und sich dadurch selber zu stabilisieren. Das gemeinsame Angstbild vor ‚Verschwörung‘, vor dem ‚Fremden‘ etc. sind Stärkungen, die durch Abgrenzung Identität stiften.

Freud: „Wo das Reale schwindet, da haben die Wünsche ihren Auftrieb“ (1920). Die infantilen Bedürfnisse brauchen zu Stärkung den dreifachen Panzer:

a. den Charakterpanzer (W. Reich), der mich gegen Kritik immunisiert;

b. den Körperpanzer : Vereinskluft, Fan-Kleidung, Stiefel, Helme, Abzeichen, psychische Stützhilfen (oknophile Objekte): Fahnen, Waffen; eine solidarisierende Krawall-Aura, kollektives Brüllen („Masken weg“) oder auch kollektiver Krach (der Sound der Harleys), markiges Auftreten, starker Händedruck, mit den Hacken knallen; Fan-Kleidung, ‚Kluft’ usw. Dazu gehört auch das Handy mit Körperapparatur, das dem User mit jedem Klick versichert, dass er noch da ist. Ein Selfy hilft zur Identitätsstärkung. Bei Entzug kann der Zusammenbruch folgen. Der Körperpanzer versichert dem Kollektiv-Mitglied, dass seine Ich-Schwäche stabil in der kollektiven Hülle geschützt ist, weil das Kollektiv (oder Netz) den Selbstwert sichert.

c. den Identitätspanzer als Gruppenpanzer. Er braucht die auratische Geborgenheit in der Masse: „Wir sind das Volk“. Die Vergrößerung des Ich-Ideals und seine Immunisierung erlaubt ,die Realitätsprüfung‘ zu verweigern. Der Eskapismus des unsicheren Ichs schließt sich mit der Euphorie der Gruppe zusammen.

Die moderne, plurale Gesellschaft verlangt eine stetige Integration. Dazu muss ein Ich souverän über seine Grenzen verfügen. Das narzisstische Kollektiv spiegelt immer nur das Ego, weil es in seiner narzisstischen Umsicht immer nur auf Ego trifft, das sich im gleichgetakteten ‚Wir‘ findet. Das Ich ist immer im Echoraum seiner imaginären, kollektiven Schallmauern. Dahinter droht das Andere, der Fremde, der Schwarze, Muslim, der Feind des narzisstischen Ich-Ideals und muss abgewehrt werden. Bei Gefahr, dass das Kollektiv an der Dingrealität der Lebenswelt scheitert, verschiebt es die Objektbesetzung, die gefordert wird, auf ein autoritäres Zentrum, das den Zusammenhalt sichert. Es folgt die stabilisierende Unterwerfung unter den Befehl eines scheinbar omnipotenten Führers. Die Befehlsstruktur synthetisiert die ‚schizophrene Dualität‘ zwischen Ego und Realität. Das nicht zuende geborene Ich braucht die ‚Straffheit‘ der Führung.

    2. Diese Synthese leistet auch die fanatisierte, straffe Ideologie als Stützkorsett und Bindemittel. Realitätsfern gefestigte Ideologien und ,Befehle‘ aus dem Zentrum des Kollektivideals (Führer, Gott, Bibel, Papst, Ayatolla, Koran, Marx z.B.) leiten die tendenzielle Aggression ab auf ein bezeichnetes Feind-Objekt, den ‚Sündenbock‘, oder auf die als gegnerisch empfundene Symbolik: Karikaturen, Kopftuch, ‚Neger‘; ‚Impfung‘, Parlamentarier, Migranten, ‚Bourgeois‘ usw.

Die Befehlsgeber können im religiösen Zusammenhang die Priester als Herrscher über die Auslegung der Wahrheit sein. Der ‚Gotteskomplex‘ (Richter) des populistischen Führers oder des ‚Influencers‘ im Netz kann im Kollektiv religionsähnliche Praktiken bewirken; Rituale stiften die Erkennung der Zugehörigkeit und des Ausschlusses. Im Extremfall gilt Terror als Beweis der Zugehörigkeit. Die ‚Verschwörungstheorie‘ ist soz. das umgekehrte Glaubensbekenntnis.

    3. Das Erstaunliche: Die straffe Form der Ideologie ist oft inhaltlich nur eine Hohlform: Der stramme Marxist kann zum strammen Nazi werden, der stalinistische Kommunist zum politisch-radikalen Muslim; der alternative Impfgegner demonstriert mit dem Currywurst-Liebhaber. Verliert die Fan-Mannschaft ihre Aura, schwenkt man sogar manchmal zum siegreichen Gegner über, wenn dessen Performance das stärkere Korsett liefert. Demonstranten gegen die Demokratie fordern einen Fascho-Staat, geben sich aber als Opfer genau dieses Staates aus, z.B. in der Rolle von ‚Anne Frank’ oder ‚Sophie Scholl‘. In typischer ‚Schizophrenie‘ fordern sie die Staatsform, die ihr Henker wäre. Das erklärt, dass wir bei Demonstrationen der ‚Wutbürger‘ ein Agglomerat von vielen Kollektiven vorfinden, die alle ihre formierte Triebenergie auf ein Objekt werfen und dabei das kollektive Stützkorsett als Körperpanzer brauchen. Der blockiere Individuationsprozess der Individuen wird als Retro-Symbiose erlebt und genossen.

    4. Die narzisstische Infantilität der Erwachsenen ist darum immun gegenüber Scham und Gewissen. Darum ist ja ein Dialog fast unmöglich. Der Kollektivist schreit los wie ein Kleinkind, dem man sein Triebobjekt wegnehmen will. Nun treten ‚Schläger‘ auf. Die reagieren psychotisch. In harter Begegnung mit dem Realitätsprinzip stehen sie in der Gefahr, die Illusion der eigenen Allmacht zu verlieren. Dann können die Verschmelzungsphantasien bei Verlustangst unmittelbar in Tötungsphantasien umschlagen.

   5. Die Verlierer übertragen das omnipotente, umfassende und grenzenlose Allmachtsgefühl auf ihre jeweilige ‚Götter‘. Unterwerfung ist dann Genuss und Verdienst. Rituelle Vorschriften steuern das Kollektiv. Die Angst vor dem Diktator, bzw. vor dem Verlust der Gruppenwertschätzung, hält Unterwerfung und Pflichtgefühl in Schach. Wer nicht sichtbar mitmacht, ist Outcast.

Eine herrschende Elite sorgt dafür, dass es so bleibt. Glaube an das eigene Versagen, Schuld als Minderwertigkeitskomplex steuern die Unterwerfung: Die ‚Erbsünde‘ ist unverlierbar. Es regt sich Strafverlangen nach der Strenge des eifersüchtigen ‚Gottes‘ (es darf nur einen geben: den allmächtigen Führer, den Tyrannen). In der Diktatur gilt: Befehl und Gehorchen oder der Tod. ‚Viva la muerte‘ – es gibt keine Geschichte, sondern nur Ereignisse in Wiederholung. Historische Fakten sind ‚Fake News‘, weil man sie aus Erhaltungsangst verleugnet. Retro-Phantasien nach dem alten ‚Reich‘ (oder dem ‚osmanischen Reich‘, das ‚Sammeln russischer Erde‘, die Allmachtsphantasie „wieder groß“ zu sein) bindet das Kollektiv.

   6. Bei Wegfall des göttlichen Schutzes mit einem neuen Weltbild (Galilei, Newton) wird in der europäischen Neuzeit das ‚Ich‘ zum Garant des Sicherheitsgefühls aus Autonomie. (Kant: ‚Aufklärung‘). Bricht es weg, braucht das Ich Ersatzstabilisatoren. Es rettet sich in die Flucht der kollektiven „Ohnmacht-Allmachts-Illusion.“ H. Richter nennt das den „Gotteskomplex“.

   7. Noch einmal ‚Trump‘: Als Narzisst ergreift ihn vor der Niederlage Paranoia und er inszeniert außenpolitische Wagestücke und feuert alles, was ihm widerspricht. Die Trumpisten ergreift in gespiegelter Korrespondenz gleichfalls Paranoia: Sie fühlen sich von Betrug und fremden Mächten verfolgt. Die Wahrnehmungsverweigerung führt zur gesuchten Entlastung; parallel dazu steigert sich die Paranoia: man fühlt sich von noch mehr Feinden und ‚Verschwörern‘ infiltriert . Die ‚Viren‘ werden zu anti-sozialen Wesen wie Teufelszeug; die Immunologen werden zu modernen Hexern, die man im kollektiven Exorzismus aus seinem Echoraum vertreiben muss. Die Abwertung geht bis zu ‚Pandemiedreck‘; der Gegner wird zu Ungeziefer. Eine ‚nicht-identitäre‘ Gruppe (‚Volk‘ z.B. Uiguren, ‚Juden‘) wird in totalitären Regimen im KZ isoliert. Die ‚Identitären‘ projizieren ihre Selbstisolation auf das ‚Differente‘, das darum spiegelbildlich weggesperrt gehört. – Das Kollektiv der Impfgegner gerät in eine Realitätskrise, wenn der Impfstoff wirkt. Also muss er krank machen. Bill Gates soll mit den Spritzen seine Chips einbauen. Im Medienraum der Verschwörung kommt nur die illusionäre Weltsicht zur Geltung. Die selbst gewählten sozialen Medien bilden die Mauer gegen die Information realer Fakten.

   8. Die digitale Revolution bedeutet eine der größten Umwälzungen in Lebens-und Arbeitswelt seit dem Zeitalter der Industrialisierung. Mit Schumpeter gesprochen: Wir erleben eine umfassende ‚schöpferische Zerstörung‘; nicht nur alter Technik, sondern auch der mit ihr verbundenen Werte und Weltbilder. Die industriellen ‚Skills‘ ganzer Kohorten und das handwerkliche Können verlieren ihren Marktwert. Lokale Lebenswelt, ‚Heimat‘ , bieten keine Sicherheit mehr. Millionen werden „freigestellt“ oder geraten unter den Druck des globalen Lohndumpings. - Im Zeitalter der globalen Datenlogistik suchen internationale Fonds mit einem frei flottierenden Finanzkapital nach renditeträchtigen Anlagen. Wohnungsmieten kann man bis zum Existenzminimum steigern. Die lokale Bindung der Bewohner sichert den Profit. ‚Landgrabbing‘ zerstört die bäuerliche Pachtkultur und fordert großflächige Massenproduktion, eingebundenen in einen agrartechnologischen Komplex, der linear auf Gewinn ausgerichtet ist. Manager ohne irgendeine sozialverantwortliche Bindung, nur der Performance ihrer Aktien verpflichtet, kennen und suchen keine Steuerungsmittel, die eine Kreislaufwirtschaft mit nachhaltiger Ökologie fördern. Die Einpreisung öffentlicher Güter, wie z.B. reines Wasser, Luft, Rechtssicherheit der Investitionen, Kosten des sozialen Friedens, Lebensmittelgesundheit und Tierwohl, findet kaum statt und wird so viel wie möglich durch Lobbyarbeit vermieden.

   9. Die Kluft zwischen dem Vermögen der Stakeholder und der Lohnsumme wird immer größer: Die Modernisierungsverlierer fallen in die ‚Neue Armut‘ (Piketty). Das Finanzkapital ist in einer Diktatur, die berechenbar unterstützt wird, oft viel sicherer angelegt als in ‚sozialen‘ Schwellenländern. Die folgenden Fluchtbewegungen aus diesen Ländern erhalten ein Angesicht: der ‚Flüchtling‘ raubt den „Identitären“ die Arbeit, die Wohnung und die gelebten Ideale. ‚Gastarbeiter‘ werden wieder ‚Fremde‘, denn sie sind keine ‚Reichsdeutschen‘.

   10. Die Menschen verlieren ihre psychischen Anker-Stellen. Sicherheit der Familienplanung, Arbeitsverträge, die unkündbar sind, und die prekären Arbeitsverhältnisse lassen keine Lebensplanung zu. Wenn jemand seine Arbeit verliert, hilft kein Appell an seinen ‚Verfassungspatriotismus‘. Der Staat wird nicht als Helfer erlebt, sondern als Agent der reichen Jobbesitzer. Der ‚Freigestellte‘ sieht die ‚conspicuous consumpton‘ im Stream der Medien. Das digitale Datenmanagement seiner Bedürfnisse macht ihm seine finanzielle Lage bewusst. Ihm bleibt etwa resignierter Quietismus in ‚Hartz IV’ mit den bekannten Mitteln der sanften Betäubung oder ein Eskapismus in Omnipotenzphantasien in Gruppensolidarität (auf der Straße oder im Stadion). Der Sozialstaat muss die Verluste mit Steuermitteln ausgleichen; wobei die globalen Großen alles tun, um Steuern zu vermeiden. Die Kommunen verarmen. Das Vertrauen in das ‚System‘ sinkt.

   11. Die ‚schöpferische Zerstörung‘ durch KI, autonome Steuerung, Verkäufe über Plattformen mit Affektsteuerung durch Influencer, die Überwachung privater Verhaltensformen durch digitale Subsysteme, reizen die Bedürfnisse und steigern den Konsum. Wir haben das alles ausführlich im Philo-Zirkel besprochen. Die Zerstörung des Einzelhandels durch Amazon u.a. verlangt völlig neue Geschäftsformen. Wir brauchen einen Neuentwurf der ‚sozialen Stadt‘ durch Wegfall u.a. der Kaufhäuser. Wie man eine neue ‚Konvivialität‘ herstellen kann, werden wir im Philo-Zirkel besprechen. Darum zitiere ich nur W. Bergmanns psychologisches Fazit aus seinen Buch: ‚Abschied vom Gewissen. Die Seele in der digitalen Welt‘: „Wo Cyberspace ist , kann kein Gewissen sein. Kein Mitgefühl, keine Verantwortung. Nur das ‚leere Ich‘“. Selfies ersetzen das reale Selbst. Ich-Panzer werden gebraucht.

   12. Der neue Digitalkapitalismus ist immer auch globaler Konkurrenzkapitalismus. Daraus folgt, weil Profit sein Antrieb ist, dass die lineare Grundbewegung dem Grundtrieb folgt: „Mehr ist Mehr; habe Ich Mehr, bin Ich Mehr.“ Descartes Modell: ‚Ich denke, also bin ich‘ wird zu: ‚Ich habe, also will ich mehr, dann bin ich.‘

Die digitalen Technologien verlangen nach einem kontinuierlichem Mitwachsen der Verhaltensformen; vor allem aber eine Fähigkeit zu stetiger Fortbildung. Das setzt Selbstdisziplin und Lernfähigkeit und eine spezifische Bildung voraus. Wir sehen, dass im Sprachverhalten logische Strukturen nicht mehr verstanden werden und der kategoriale Gebrauch der Konjunktionen in bildungsfernen Milieus nicht mehr selbstverständlich ist. Komplexe Texte, deren Sätze über eine E-Mail, etwa mit zwei Kommata, hinaus gehen, bereiten Verständnisschwierigkeiten. Der funktonale Analphabetismus nimmt zu; zugleich aber wächst die Kränkung des Versagens. Im Curriculum der Ausbildung steigen die Abbrecher- Zahlen. Die sozialen Kosten steigen.

   13. Die große Kultur und Kunst Europas und ihre Träger werden zum persönlichen Vorwurf. Eventkultur prägt die Szene. Mit einer ‚Spaßkultur‘ kann man nicht lernen, wie man algorithmische Programme schreibt. Literatur wird bei größerem Absatz nur noch im Flattersatz gelesen. Wer die Abonnementszeitungen nicht mehr lesen kann und will, beschimpft die Lügenpresse, die er gar nicht kennt.

Fazit: Aus dem Gefühl des Versagens, aus der Verlustangst und der Erfahrung geminderter Achtung bauen sich die Körperpanzer auf.

 

 

II. „Wildes Denken“ und protestierende Massenbewegungen. Das Virus als Jagdobjekt.

   1. Die persönliche Krise führt gelegentlich zur Aktivierung archaischer Muster, die wir als ehemalige ‚Jäger und Sammler‘ im tiefsten Unbewussten aus prähistorischer Zeit gespeichert haben. Schon seit den 70er Jahren findet die ‚Mythenforschung‘ wieder gesteigertes Interesse (z.B. M. Frank: ‚Neue Mythologie‘, 1989); das „wilde Denken“ (Claude Lévy-Strauss) wird als alternative Logik entdeckt. Im letzten Jahrzehnt kommen Religion und Philosophie wieder in ein gemeinsames Gespräch (prominent: Habermas). Hier werden wir im Philo-Zirkel anknüpfen.

   2. Präsident Macron führt einen ‚Krieg‘ gegen das Virus. Kriegsmetaphern sind in Frankreich häufiger als in Deutschland. Die Grundhaltung ist vergleichbar. Die Möglichkeit, das ‚wilde Denken ‘ der Vorzeit mit den Verhaltensformen der Wutbürger in Analogie zu setzten, ergibt sich aus dem Werk E.Canettis ‚Masse und Macht‘ (Fischer Tb., 35. Auflage!), das wieder an Leseinteresse gewinnt z.B. bei Roberto Calasso: ‚Der Himmlische Jäger‘ (Suhrkamp 2020). Beide beobachten die Interferenz und Ineinanderverwandlung von Jäger und Opfer in ‚indigenen Ethnien‘. Canetti formuliert den Begriff der ‚Jagd‘ um und spricht von ‚Fluchtverwandlungen‘: Die Jäger spüren am Leib die Ankunft des Tieres; sie sind bis in den Köper mit ihm identisch. Im Jagritual wird die Anverwandlung und Aneignung vorgebildet: Der Jäger wird im Tier zum Opfer. Der Tod muss gesühnt werden und durch Ofer gegenüber der Natur ausgeglichen werden. Canetti nennt das: „Das Gegessene isst zurück.“ („Ich esse ihn; mich er“; S. 385) Wir können das an der christlichen Messe nachvollziehen, heute symbolisch, bei den Jägern real: Der Gläubige isst seinen Gott mit Fleisch und Blut und wird in der Kommunion mit ihm identisch.

   3. Die neuzeitliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt hat sich in Europa über Jahrhunderte herausgebildet. (Etwa von Augustinus über Descartes zu Kant). Die Ethnie kennt kein autonomes Ich. Sie sieht das Individuum als Kette ihrer totemistischen Einheit. Der ‚Name‘ wird aus einem Ereignis (Beuteglück z.B.), öfter aus der Bluts-und Ahnenbindung erworben. Stirbt ein naher Verwandter, so kann der tote Ahne (und sein Totemtier) im Lebenden auferstehen; der Lebende wird zum Ahn. Nur als kollektives Wesen ist er existent. Im Mittelalter hieß es vom Hoferben: ‚Le mort saisit le vif‘: ‚Der Tote ergreift den Lebenden.‘ So kann auch der ‚König‘ als Kraftgestalt nicht sterben. (‚The king is dead; long live the king.‘) Wir finden also in der prähistorische Ethnie ein „leeres Ich“, das die kollektive Person ausfüllt. Das wiederholt sich heute in der Masse der Wutbürger.

   4. Das Allmachts-Kollektiv ist in seinem narzisstischen Wesen ohne Grenzen. Auch hier gilt: ‚Mehr ist Mehr‘. Es lebt in der Einheitsstruktur von ‚Interiorität‘ und ‚Exteriorität‘ (Lévy-Strauss), immer davon bedroht, dass der zwanghafte Ausgleich misslingt. Die Erwartung an eine autonome Ich-Identität aus individuellem ‚Menschenrecht’ und aufgeklärter Mündigkeit geht darum völlig an der Lebenswelt des ‚Identitären‘ (oder der patriarchalischen ‚Clanmentalität‘) vorbei. Wir haben die polyvalente Struktur des Agglomerats der Wutbürger gesehen, die gleichzeitig auf mehrere formale Typen abhebt. Bei den Ethnien stiftet die Verbindung Ahn und Totem; bei den Wutbürgern Ideologie und Gruppenkorsett. Ethnien wie Wutgruppen haben das Problem der ‚differentiellen Abstände‘ (Lévy-Strauss), die sie einerseits brauchen, andererseits aber als Begrenzung ablehnen. Dauer und Diskontinuität ist zugleich zu ertragen und zu vermitteln. (Der ‚Präsident‘ kann nicht abgewählt worden sein.)

Die moderne Protestmasse ist insofern nicht mit der Ethnie zu vergleichen, weil diese kein Ich hat und braucht. Die modernen Allmachtsphantasien werden aber gerade aus dem unfertigen Ich geboren, indem sie die europäische Ich-Bildung verweigern, um im Glücksgefühl der Retro-Utopie im imaginären Uterus zu bleiben.

   5. Canetti hatte die faschistischen Strömungen seiner Zeit (1925) vor Augen. Es ging um den Populismus von ‚Führer und Gefolgschaft‘. Die Führung muss ihre Omnipotenz stetig auratisch vergrößern: ‚panem et circenses‘, Heeresparaden, Kriegsphantasien, ‚Lebensraum‘, ein ‚Platz an der Sonne‘. Der ‚Schatten‘: Terror nach innen zusammen mit Propagandalügen, dazu Folter, Mord, KZs, wird von den Followern seiner Heilsbotschaft verleugnet. Sie phantasieren die Lichtgestalt. (‚Der Führer hat von allem nichts gewusst‘.) Nicht Trump ist ein Lügner und korrupt, sondern die andern begehen Verrat (‚Fraud‘) und streuen ‚Fake News‘. Bricht das Regime bei ‚Overstreching‘ zusammen, bleiben die Omnipotenzphantasien der Anhänger noch lange erhalten (z.B. darum die Angst der Republikaner vor Trumps möglicher Propaganda oder Rache; Neo-Nazis).

   6. Was mein Thema angeht, so ist Canettis Kapitel ‚Der Befehl‘ besonders aufschlussreich.Wir haben aber einen großen Unterschied im Modell Canettis zu berücksichtigen: Es geht nicht um Tyrann und Gefolgschaft der Massen, sondern um eine demokratische Regierung. Die Seuchenmaßnahmen, die sie vorschlägt (‚Lockdown‘), sind für eine Minderheit illegitime ‚Befehle‘. Sie lehnt demokratische Verfahren als Freiheitsberaubung ab, obwohl sie von deren Toleranz lebt. Die gesetzlichen Grenzsetzungen, etwa die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, sind von vornherein eine tiefe Kränkung ihrer Triebphantasie nach grenzenloser, selbstbezogener ‚Allmacht‘. Sie vollziehen eine erzwungene Unterwerfung. Der Mitvollzug führt, wie Canetti das nennt, zur ‚Befehlsangst‘ aus dem unbewussten Gefühl ihrer Suggestionssklaverei. Canetti scheibt: „Jeder Befehl besteht aus einem Antrieb und einem Stachel. Der Antrieb zwingt den Empfänger zur Ausführung, und zwar so, wie es dem Inhalt des Befehlt gemäß ist.“ (Beispiel: „Masken tragen!“) „Der Stachel bleibt in dem zurück, der den Befehl ausführt.“ (Canetti, S. 360) Der Stachel wird in der Trieb-Umkehr zum ‚Pfeil‘. (Canetti, S. 372) Das Opfer der Unterwerfung wird zum Täter. D.h.: das gejagte Wild bricht aus dem ‚Kral‘ aus, flüchtet aus dem fremden gefährlichen Raum zurück in seine unbegrenzte Freiheit (in die Wildnis), bzw. des Kollektivs in seinen kollektiven Echoraum. Es zeigt seine ‚Stacheln’ durch Aggression. Die erlebte und phantasierte ‚Treibjagt‘ wendet sich um: „Wir jagen sie, die Anderen.“ Auch der Wutbürger spürt, dass seine Wut nur zerstört, nicht aufbaut. Daraus folgt: Je mehr Wut, desto mehr Paranoia. Er fürchtet die archaische Verwandlung des Jägers in sein Opfer.

Wo das ‚Virus‘ als Jagdbeute verstanden wird, vollzieht sich eine gewisse Anverwandlung der Strukturen an seine Forderungen, z.B:

1) Isolation: Das ist die Zwangsgrenze gegen die Allmachtsphantasie, in welcher vor allem die narzisstischen Gegner die Freiheit fordern.

2) Masse will Dichte (nach Canetti): Das Distanzproblem wird zum Grenzproblem. Individuation bedeutet auch Individualitätsbildung. Gerade hier liegt aber das psychologische Problem: Geht der Wutbürger oder Fußballfan in die Distanz, geht er‚ nach Hause‘, trifft er als Vereinzelter auf sein unsicheres Ich ohne Korsett und fühlt sich vom Kollektiv, seiner Stütze, verlassen. Er muss schlimmstenfalls vom Monitor aus alleine arbeiten; dann stabilisiert er sein Ichkorsett mit der Versendung von ‚Hass-Mails‘.

   7. Die ‚normale‘ Arbeit unter Pandemiebedingungen gelingt nur bei einer rationalen Akzeptanz der Maßnahmen. Dazu ist die Arbeit aus einem erwachsenen Realitätsprinzip Voraussetzung und eine selbstgewisse Ich-Identität. Die Norm der Über-Ich-Instanz kann aus Einsicht umgesetzt werden. Freuds Satz: „Was Es ist, soll Ich werden“ gelingt gerade in der Angst des Kollekivverlustes nicht. Das ‚Ich‘ bleibt soz. im ‚Es‘ stecken. Weil die uterale Bergung als Hülle fehlt, wird die Öffentlichkeit zum Räuber der Mutter: Der ‚shitstorm' bricht los. (Analmetaphern sind typisch.)

   8. Die Erfahrung des Ich am Anderen, das Erlebnis der Alltagswelt als „Eigensinn“ (Habermas), jenseits von digitaler Steuerung und KI-Mustern, wird mit den Masken und Monitoren der Kommunikation immer schwerer. Für die Wutbürger müssen wir Hilfen anbieten, wie sie aus ihrer Falle herauskommen. Völlig klar ist, dass Repression auf die Dauer nichts verbessert. (Das Gefängnis wird wir für einige schwache Identitäten zum Ort der Radikalisierung. Der Stachel wird ausgefahren.)

   9. Vertrauen zum Anderen ist ein erster Schritt. Die Anerkennung der Realität ist die Grundlage; dazu braucht es Vertrauen in die Chance einer gesicherten Zukunftsperspektive. Das verlangt einen Umbau unser digital-kapitalistischen Steuerungsmittel. Das lineare, quantitative ‚Mehr‘ ist ‚Mehr‘ muss sich ändern in ein ‚qualitatives Mehr‘. Das lineare Modell muss zum ökologisch basierten Kreislaufmodell umgebaut werden. ‚Nachhaltigkeit‘ verlangt aber auch soziale Solidarität im Verbrauch. ‚Eigentum verpflichtet‘ ist in einer Welt der globalen Produktion und des Kapitaleinsatzes internationaler Fonds gar nicht einzufordern.

   10. Jede Gesellschaft braucht eine Sinnstiftung im Umgang mit Tod und Leben. Corona führt uns die Defizite vor Augen. Die moralische Steuerungskapazität der Kirche ist gering. Die Rituale bleiben ohne transzendenten Sinn, weil sie in der aufgeklärten Wissensgesellschaft nicht Boden fassen.

Hier kommen Kunst, Religion und Philosophie traditionell ins Spiel. Wir haben im Philo-Zirkel die ‚ernsten Spiele‘ von Platon bis Cusanus und Schiller nachgespielt. In der Kulturkritik im Umgang mit der Eventkultur und Anleihen bei Adorno und Benjamin u.a. war klar: Die traditionellen Transmissionsriemen wie Theater, Konzert, Museum, Universität und Kirche sind prekär. (Die Förderung in der Pandemie zeigt die Problemlage deutlich.) Philosophie stellt das Alltägliche in Frage: wir wollen das Fragen im Philo-Zirkel nicht unterlassen.