Annäherung an Platon: Die Gleichnisse; Mysterienbezüge.
(Philo-Z-24-I-Platon)
Referent des Philo-Zirkels: Reinhart Schönsee
1. Ursprung der Methaphysik und Platons Gleichnisse
Es besteht Konsens, den Ursprung der Metaphysik in einem Satz der Parmenides zu suchen: „to gar auto noein estin te kai einai“: Denn das ‚Selbe‘ (auton) ‚Ist‘ (estin) das ‚Denken‘ (Nous, Geist, ‚Videre‘ = Idee = Schau) wie zu ‚Sein‘ (Wesen; ‚sprossendes Leben‘) . ‚Wesen‘ und ‚Wissen‘ sind ein Ganzes, ‚Synholon‘. (Vgl. G.Picht, ‚Von der Zeit‘, S. 99) Die Paradoxie im Sinne der Subjektphilosophie löst sich im Platonismus auf durch die Wirkung des ‚Agathon‘ (des ‚Guten‘), seiner „Dynamis“ als lebenspendende Macht des Lichts aus dem ‚Einen‘, das im ‚Sichtbaren‘ (dem ‚Oraton‘) zum Vielen wird. Das ‚Hen kai Pan‘ (‚Eins und Vieles‘) liegt dem Prinzip zu Grunde nach Heraklit. Zu Platon stellt sich die Lichtmetaphysik des Heraklit als „Blitz“ (‚Keraunos‘), der in seiner ‚Plötzlichkeit‘ (‚exeifnes‘ bei Platon) Chaos und die Welt im Ganzen ordnet. (Vgl. hierzu das ‚Heraklit-Seminar‘ Heideggers mit E. Fink (Wke 15, Vorl. 66/67, Fragment 64: ‚panta oiakitze Keraunos‘: „alles ordnet der Blitz“; eda. S. 13) Die Bezüge der Zahlensymbolik bei Platon im Sinne des Pythagoras (s. Schefer, S. 200ff) haben wir angesprochen; sie müssen hier übergangen werden.
Wir haben uns dem ‚Herzstück der Philosophie Platons‘ zugewandt: ‚Sonnengleichnis, Liniengleichnis, Höhlengleichnis‘. Zu beachten ist, dass alle drei Gleichnisse im Bild die Erziehungswege der Verfassungshüter, der ‚Wächter‘, die den Mächtigen der Polis Einsicht in das ‚Gute, Wahre und Schöne‘ als Verfassungsziel vor Augen halten sollen.
Das ‚Sonnengleichnis‘ (Politeia‘, 507b ff). Die Anknüpfung an Parmenides ergibt sich sofort, wenn es heißt: ‚aletheia te kai to on‘ (508d): Die ‚Wahrheit (ist) zugleich das Sein.“ Das ‚Gute‘, ‚Agathon‘, herrscht mit seiner ‚Dynamis‘ (‚Energie‘) mittels der Sonne (Apoll) zugleich über die Welt der Erkenntnis (Noeton) wie über die sichtbare Welt (Oraton). Licht (‚Phos‘ (auch ‚Feuer‘)) erleuchtet die Vernunft (Episteme) und bringt in der ‚Physis‘ (in unserem ‚Subjekt Erde‘) Leben und Wachstum hervor. Licht ist ein ‚triton genos‘, eine Dritte Energie (neben dem Intelligiblen und dem Sinnlichen). Es ist eine dynamische Einheit, die nicht gesehen werden kann, aber die Welt ermöglicht und belebt. (Vgl. Wyller: ‚Der späte Platon‘, S. 13)
Das ‚Liniengleichnis‘ (509d) ist komplizierter gebaut. (Eine sehr gute Analyse bietet E. A Wyller: S. 16f). Es bietet ein vierstufiges Modell der Erkenntnis, das wie auf einer Leitersprosse aus der Schattenwelt ans Licht führt. (Die ‚Tetraktis‘ der Pythagoreer steht im Hintergrund.) Es findet seine Erfüllung im ‚Fünften‘, der ‚Dynamis‘, als ‚Arche‘ und Ursprung allen Seins (‚arche tou pantos‘) (der ‚Sonne‘ Apolls im ‚Sonnengleichnisses‘). Das 5. Element ist auch der ‚Äther‘; sein kosmisches Symbol ist im ‚Timaios‘ der Pentagondodekaeder. Der Leiterweg des Liniengleichnisses hat zwei Parallelen: Der noetische (intelligible) Aufstieg führt in die je höhere Einsicht (über 1. eikasia, 2. pistis, 3. dianoia, 4.espisteme). Aus der anderen Parallele erfolgt eine immer klarere Vision aus der Schattenwelt in die Lebenswelt und weiter durch die sich steigernde Erleuchtung der ‚Eide‘, der ‚Bilder‘, zur eidetischen Schau. (Wir sind beim griechischen Vokabular geblieben. Dianoia = ‚Verstand‘; Epitseme = ‚Vernunft‘ im Sinne Kants führt auf eine völlig andere Semantik.) Die Parallelen stehen in einer Proportion (‚syndesmos‘), die eine ‚Methexis‘, die eine ‚Teilhabe’ aller Glieder in abgestufter Form ermöglicht, so dass der Satz des Parmenides in platonischer Abwandlung gilt.
Das ‚Höhlengleichnis‘ (514a) fasst im Grunde die beiden anderen Gleichnisse zusammen. Die unaufgeklärten Menschen sitzen in einer ideologischen Gefangenschaft: Sie sehen die ‚Schatten‘ an der Höhlenwand so als säßen sie im Kino, und sie halten die Lichtbilder für die Realität. Will man sie daraus befreien, muss man sie zur ‚periagoge‘, zu einer ‚Wende‘, zwingen, was mit Schmerzen und Blendung verbunden ist, zumal das Sonnenlicht von oben und außen beim Aufstieg durch die Schattenbilder ‚plötzlich‘ (‚exeifnes‘) auf sie einströmt. Man muss die Gefangenen erst an die Blendung gewöhnen. Nur mit äußerster Anstrengung gelingt die Überwindung der Blendungsgefahr. Am Ausgang schauen die ‚Umgekehrten‘ das ungeteilte ‚Licht‘, das letztlich der eine „Theos“ (‚Gott‘), der noch über Apoll aus der Sphäre des Agathon als ‚agnostos theos‘ (‚Deus absonditus, unsichtbarer Gott‘) den Aufstieg impulsiert. Der ‚Theos‘ ist bei Platon wohl durchaus monotheistisch gemeint und Herr über den Demiurgen des ‚Timaios‘. Der ‚Lichtglanz‘ des ‚Guten‘ „ist geradezu das Typische der göttlichen Epiphanie“. (Schefer, S. 182) Platon zeigt, dass die Menschen im Gefängnis ihrer Schattenbilder die Befreiung und schmerzliche ‚Wende‘ gar nicht wollen. Sie fühlen sich wohl in ihrer ‚Gefangenschaft‘ und ihrer ‚Gespensterschau‘. So kommt es, dass sie ihren Befreier aggressiv angehen bis zur Bereitschaft des Totschlages.
Die Aktualisierung liegt auf der Hand: Wer die ‚Handysüchtigen‘ aus der virtuellen Welt befreien will, wird als Aggressor gesehen. Die Blase der ‚Fake News‘ ist für ‚Netz-Addicts‘ wahrer als die Realitätsbegegnung (etc.).
2. Platons Bezug zu den Mysterien
Die sog. ‚Tübinger Schule‘ (Krämer, Kranz u.a.) hat seit ca. 2000 die ‚Randerzählungen‘, die Einleitungen zu den Dialogen, besonders beachtet, die vorher eher als irrelevant beiseitegelassen wurden. Die Forschungen ergaben einen reichen Hinweis der Dialoge auf die Sprache der Mysterien (besonders Eleusis), doch so, dass eher nur die ‚Mysten‘ (‚Epopten‘) verstanden, was gemeint sei. Diese ‚geheime Offenbarung‘ schuf aber ein genaueres semantisches Verständnis der Dialoge und eine weitere Deutungstiefe. Wir nahmen die Arbeit von Christine Schefer: ‚Platons unsagbare Erfahrung‘ als Leitfaden für die Texte (und gelegentlich R. Reitzensteins ‚Die hellenistischen Mysterienreligionen‘ und F.Cumonts ‚Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum‘).
Die Rahmenerzählung zur ‚Politeia’ beginnt mit dem Gang der Gesprächsgemeinschaft zum nächtlichen Fest der athenischen Göttin Bendis. Am Abend soll ein Fackelzug sein wie beim Nachtzug der Mysterien in Eleusis. Die Freunde treffen auf einen Alten an der ‚Schwelle zum Tode‘ (329e), und es geht um die rechte Sinnesart, vor allem vor der Tatsache, dass der ‚Hades‘ Unrecht mit Strafe ausgleicht. Das leitet über zur Frage nach ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Wahrheit, eingebunden in die ‚Sorge‘ um die „heiligen Dinge“. (331d) Dazwischen steht der Text der ‚Politeia‘ als ‚Paideia‘ für die Verfassungswächter. Und am Schluss (608a ff) winkt der Lohn für Gerechtigkeit nach Befreiung der Seele vom Körper (611a). Unsterblichkeit und Wiedergeburt knüpfen sich daran. Jeder wählt sich zum „Hüter seines Lebens den eigenen Dämon“ (617d) und folgt seinem ‚Los‘ gemäß dem Gesetz, das die „Töchter der Notwendigkeit“ (Moiren) verwalten. Man erkennt sofort, in welchem tieferen Bezug die drei Gleichnisse stehen, wenn man sie als gerichtete ‚Lebenswege‘ (‚Hodos‘, 328e) deutet. Schefer weist auf den polaren Bezug der eleusinischen Mysterien zum ‚Höhlen- und ‚Sonnengleichnis‘ hin. In Eleusis geschieht die Erscheinung des Gottes ‚plötzlich‘ im Glanzlicht der Fackeln in der Nacht. (Vgl. Schefer, S. 812) In den Gleichnissen zieht das Tageslicht Apolls diejenigen, die die Blendungsprobe bestanden haben, als zukünftige ‚Epopten‘ nach oben. Die Dionysien der Nacht stehen polar zu den apollinischen Feiern des Lichtes. Die nächtliche, eleusinische Lichtmetaphysik stiftet ‚Eusebeia‘ (Glückseligkeit). Die Gleichnisse unter Leitung Apolls führen auf das rechte Leben, Erleuchtung, Wahrheit und Erkenntnis.
Zum Abschluss haben wir den berühmten ‚7. Brief‘ (340c ff) Platons gelesen, den er als Antwort auf die Frechheit des Tyrannen Dionysios von Sizilien schreibt, der sich mit Platons Texten prahlend geschmückt hat. Der Brief ist das bedeutendste Selbstzeugnis Platons. (Vgl. Schefer, S. 132) Grundsätzlich gilt aber: Schriftliches bleibt immer nur ein toter Text gegenüber dem lebendigen, dialektischen Gespräch. Das berühmte Selbstzeugnis lautet: „Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es lässt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände (mathemata), sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung (synousia) um die Sache selbst (‚peri to pragma auto‘). „Aus dem gemeinsamen Leben entsteht plötzlich (exeifnes) wie ein Feuer (pyros), das von einem übersprungenen Funken (phos) in der Seele (sich) nährt (trephei) (und) sich dann schon aus sich heraus weiterentwickelt.“ Schefer (S. 49 u. S. 63 ff) schreibt dazu: „Damit aber lehnt er sich an die unsagbare Erfahrung der religiösen Mysterien an.“ Platon sagt, wenn schon Schriften herausgegeben werden, dann „von mir“ (340, d). Nur für wenige Menschen ist es nützlich, „die wahre Natur ans Licht zu ziehen“ (‚ten physin eis phos‘, 341d). „Alle übrigen würden sich entweder mit unaufrichtiger Geringschätzung aufblasen und damit der Sache nicht gerecht werden oder mit der hohen, eitlen Hoffnung, sie hätten irgend etwas Erhabenes gelernt“. (Vgl. dazu Schefer, S. 36ff) (Platon wiederholt die Spitze gegen die Sophisten aus dem ‚Höhlengleichnis‘.) Denn nur „unter Mühen“ beim „Durchgang“ (diagoge, 343d) durch den Kosmos der Elemente aus der ‚Höhle‘ nach ‚oben‘ (‚ano‘) oder im Glanzlicht der Eleusinien (‚kato‘, ‚unten‘) wird der „Keim“ der Erkenntnis ( episteme) wachsen und auch nur, „wenn der Gegenstand und der Nährboden von guter Art sind.“ Das Glanzlicht des ‚Funkens‘ leuchtet zur Einsicht in die „Wahrheit des ganzen Seins“ (‚alethes tes holes ousias‘, 344b).
Der ‚Funke‘ als ‚centrum centri‘ durchzieht in Abwandlungen die abendländische Philosophie. Er kommt wohl am Schönsten zu Geltung in Schillers Lied ‚An die Freude‘: Der ‚Götter-„Funke“ entzündet die Brüderwelt, die „feuertrunken“ das „Heiligtum“ (‚Tempel‘) des Lichts (Phos= Licht= Feuer) betritt. Der „Vater“ (‚Pater‘ der ‚Epopten‘ in den Mysterienschulen nach Apuleius, s.u.) droben ist der Mystagoge: Er ist Platons „Gott“ (‚Theos‘, ‚Höhlengleichnis‘, 517b). Er erhält die Harmonie der Welt „überm Sternenzelt“ kraft seiner „Dynamis“ als Herr des Lichtes (des Blitzes mit Heraklit), durch das er das Urchaos „ordnet“. Wir hören im Lied die „Sphärenharmonie“ und erleben die ‚Eusebeia‘ (‚Freude‘) der Weltgemeinde.
Wir haben das Semester geschlossen mit des Apuleius ‚Picaro-Roman der Antike‘‚ ‚Der Goldene Esel‘ (ca. 165 n.Chr.) Der Schluss (Kap. 22-25) gilt als die deutlichste Darstellung einer Mysterieneinweihung der Antike.
Der Held ‚Lucius‘ wird zurückverwandelt in einen Menschen und darauf in die Mysterien der Isis, später des Osiris eingeweiht. Apuleius war Priester des Asclepius in Karthago zur Zeit des Kaisers Antonius Pius. Er sagt: „Ich bin an die Grenze des Todes gekommen und habe die Schwelle der Proserpina betreten, durch alle Elemente bin ich gefahren (Platons ‚diagoge‘ ‚ano‘ und ‚kato‘: Durchgang durch das ‚ Oben‘ und ‚Unten‘) und dann zurückgekehrt, um Mitternacht hab ich die Sonne in blendend weißem Licht leuchten gesehen, den Göttern droben und drunten bin ich von Angesicht zu Angesicht genaht.“ ((XI,K.23) Er macht also die dionysische Einweihung von Eleusis (‚unten‘, Beginn der ‚Politeia‘) und die hyperboreische des Apolls (oben) (‚Höhlengleichnis‘) durch.(Vgl. Schefer, S. 2218f) Eine genaue Ausführung ist hier im Kurztext nicht möglich.