Der Philozirkel. Arbeitsbericht für das Halbjahr 2016/17

„Irgendetwas ist zerbrochen. Es ist eine Art Melancholie, die man den Werken der Kunst und der Musik sehr wohl anmerkt.“

Diese Stimmungsanalyse, wie sie der Philosoph Lyotard für unsere Zeit vornimmt, gab den Anstoß, nach verwandten Kunstepochen zu suchen.

Dürers berühmter Stich: ‚Melencolia I‘ bot sich an. Wir haben von dieser symbolischen Ikone die Bezüge zu Neuplatonismus und Hermetismus erschlossen. In den philosophischen Horizont der Renaissance traten wir tiefer ein mit der Deutung des ‚Kaufmann von Venedig‘. Den ersten Vers spricht der Held Antonio: "In sooth I know not why I am so sad.“ Shakespeare ist der Meister der intellektuellen Melancholiker wie Antonio, Hamlet oder Jaques („a melancholy fellow“: ‚As you like it, IV, 1). Die Philosophen im Kreis der Medici wie auch die Intellektuellen der Elisabethaner stilisierten sich als Melancholiker. Das Narrativ des ‚Kaufmanns von Venedig‘ sollte bei genauerer Analyse heißen: ‚Die Fahrt der verliebten Melancholiker unter der Leitung des guten Glück nach ‚Arcadien‘ (Belmont)‘; ihr Ziel: die ‚Heilige Hochzeit‘ im ‚Goldenen Zeitalter‘. Saturn und Blei wandeln sich dann in Sonne und Gold: Liebe erfüllt sich im Klangraum der Sphären beim silbernen Mondenschein. Die Alchemie trat in unseren Horizont. ‚Arcadien‘ war der Fluchtraum vor den Abgründen der Zeit. Immer war der Tod in der Idylle verborgen. Der Liebeskult, der für die Praxis des Frauenlebens kaum Bedeutung hatte, feierte den ‚Eros‘ in allen Formen der Gendergestaltung, die damals in den Geschlechtermetamorphosen möglich war. Mit der Liebesphilosphie Ficinos feierte man die unberührbare ‚Hohe Frau‘ in der Gestalt der ‚Venus coeleste‘; die ‚Venus vulgare‘ kam als Verführerin dabei nicht zu kurz.- Die Philosophie der Renaissance hat eine emblematische Sprache, die oft ihren Sinn verbirgt, um sich für die Eingeweihten zu öffnen.

Giordano Bruno z.B. wählt den Mythos des ‚Aktaion‘, um seine Gedanken als Jagdhunde auf das Erkenntnisobjekt anzusetzen, wohl bewusst, dass der Philosoph wie Aktaion Täter und Opfer ist und im Erkenntnisvollzug Subjekt und Objekt in mystischer Ekstase in Eins setzt. Wir sind auch dem Mythos des Marsyas nachgegangen. Er ist für Platons Sokrates eine verdeckte Mysterienhandlung; bei Dante, Petrarca und im Neuplatonikern wird er dann zum Handlungssymbol des Genius, der sich im Opfer des Selbst die Schönheit gewinnt und ausstellt. Tizian und Raffael boten für uns die philosophischen Ikonen.

 

Was waren nun die entscheidenden Momente der Zeitkrise, wie wir sie erschlossen haben?

1. Die Weltbilder des Mittelalters waren zerbrochen. „Die Lust zu Leben“ fand sich immer auch vor dem abgründigen Schrecken der unendlichen Welten, wie sie G. Bruno entworfen hatte. Es gilt die doppelte Wahrheit: Die Wunder der Bibel gelten. Deren Kosmologie steht in Frage: Wo ist Gott in der ‚Unendlichkeit der Welten‘?: Das Leben ist ein Rollenspiel auf dem Theater der Welt. Die Elisabethaner sind Wanderer im Labyrinth der Fortuna. Hermetismus stiftet eine okkulte Chance, durch den ‚platonischen Wahnsinn‘ (Raptus) in Begeisterung und Liebe dem ‚Deus absconditus‘ , dem ‚verborgenen Gott‘, sich anzunähern. Bei den Medici gilt: „Le temps revient": Das sind die symbolischen Narrativen einer Wiederkehr der ‚Goldenen Zeit´ des Saturn nach Vergil. Zugleich wird Cesare Borgia der Held Machiavellis.

2. ‚Fortuna‘ wird ‚am Schopf gepackt‘ (den Kairos ergreifen: den glücklichen Tatmenschen belohnt Fortuna (Machiavelli). Doch gilt die Imprese: ‚Omnia vincit amor‘ (Vergil): Alles besiegt die Liebe. Unsicherheit herrscht über die Person (die Ich-Identität) des Rollenspiels im Theater und am Hof. Montaignes Feststellung ist bezeichnend: Wir sind ‚buntscheckige Fetzen‘ (vgl. die Kleidung der Zeit!). Der Androgyn ist die Ziel- und Leitfigur in der festlichen Repräsentanz (z.B. Franz I.) und auf dem Theater. Die Perspektive in Bild und Architektur sichert den Fluchtpunkt und versichert dem Betrachter einen Standpunkt und damit auch eine Restauration seines unsicheren Ichs.

3. Die Einpassung des Mikrokosmos in den Makrokosmus geschieht durch Mimesis. Das pythagoreisch-platonische Ordnungsmuster sichert die Passform, aber die Maße waren zerbrochen. Das Urteil der Eliten, was Kunst sei, ist immer auch Repräsentanz des Mäzens und Sinnpropaganda durch Allegorien und Embleme, durch Signaturen, die den ‚Eingeweihten‘ sich erschließen. Macht kleidet sich in den Mantel schöner Mythologien, die aber im physikalischen Weltbild immer hohler werden.

4. Melancholie ist der Grundtenor: Die Unsterblichkeit der Seele wird bejaht (Ficino) und bestritten (Pomponazzi). Die Unsicherheit führt auch politisch zu Systembrüchen (Bürger- oder Adelsrepublik versus Tyrannis, feudale Diktatur oder repräsentative, ständische Institutionen, Wahl gegen Erbfolge, religiöse Erlösungsutopien: Savonarola).

5. Der Mensch ist begabt mit allen Organen des Kosmos (Ficino) (er hat ‚alles‘), bzw. er ist völlig frei von jeglicher Spezialisierung (Pico) (er hat ‚nichts‘ bis auf die Vernunft): Er kann zum Gott oder zur Bestie werden. Die Weltseele, die Intelligenzen der Planeten, finden ihre Spiegelung im Geiste des Menschen. Seine Gestalt ist im goldenen Schnitt eine Formation aus dem höchsten Gestaltkörper Platons, der Quintessenz, dem Pentagondodekaeder. Die Architektur und der Aufbau der Bilder spielgelt diese Proportionen geometrisch wider. Nur dieser Mensch ist auch grausam, wenn Fortuna ihn begünstigt.

 

Für den Philozirkel: Dr. R. Schönsee