Gespräch über Naturphilosophie 3 (Hegel: Fließbild, ‚Neue große Erzählung‘, Phänomene.)

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Philo-Zirkel. 10.3.22 (Schönsee)

Nach dem 24.2. 22 suchen wir nach einer ‚Neuen großen Erzählung‘: ‚Le grand récit‘ (S. ‚monde diplo‘. Mars 2022)

‚Neue Erzählungen‘ beginnen im Geiste in einer Kultur, nachdem ihr ‚fixes Selbstbewusstsein“ in ‚Fluss‘ gerät durch zivilisatorische Umbrüche in Moral und Technik.

I.

a. Ein Grundproblem der Naturphilosophie ist die Frage nach dem ‚Leben‘. Wir kennen die ‚Bedingungen‘ seiner Erscheinung: autonome Bewegung in einer Gestalt komplexen Wachstums mit pulsierenden Bewegungen, zyklischen ,Rhythmen, die ein ‚Werden‘ und ‚Entwerden‘ (Goethe) in kosmischen Kreisen vollziehen: Z.B. Frühling - Winter; Blüte - Frucht; Wechselwirkung von ‚Aus- und Einatmung‘ (‚Systole - Diastole‘: Goethe) zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen; koevaluative Entwicklung in osmotischen Vernetzungen: ‚Tod‘, um viel ‚Leben‘ zu haben‘ (Goethe). Das Wesen des Lebens ist physikalisch und physiologisch noch nicht verstanden.

b. Die ‚Neue große Erzählung’ schleppt mit sich veraltete und darum erstarrte Narrative, die in einer modernen Naturphilosophie in ein ‚Fließbild‘ lebendiger Begriffe gewandelt werden können. Hegels Dialektik bietet hier einen Zugang (s. Paul Feyerabend: ‚Naturphilosophie‘, S.293 ff):

Dazu aus Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘. Vorrede, S. XLI (S. 22/28). Zentraler Satz:

„Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Daseyn.“ Es geht um die „innere Unmittelbarkeit“, die „das Fixe ihres Selbstbewusstseins aufgibt.  …Durch diese Bewegung werden die reinen Gedanken Begriffe.

‚Feste Gedanken‘ sind ‚fixe‘ Begriffe und umgrenzen als ‚abstrakte‘ De-Finitionen (Grenzsetzungen) einen lebendigen Begebniszusammenhang (das ‚Fließbild des Daseins‘), der in der Einheit von Subjekt und Objekt als lebendige Erfahrung gegeben ist. Die abstrakten (‚abgezogenen‘) Begriffe trennen (in der ‚Découpage‘, s.u.) dabei das Objekt vom Subjekt und werden zu Allgemeinbegriffen. Sie sind darum tauglich für Mathematik, Statistiken, experimentelle Begrifflichkeit oder Taxonomien.

(Beispiel Medizin: Der ‚Befund‘ wird zum ‚Fachbegriff‘; die Heilung muss aus einer lebensorientierten Erfahrung des Subjekts (Arzt) in eine lebendige Gestalt gebracht werden, d.h. in ‚Flüssigkeit‘.) Der individuelle, ursprüngliche Bezug zum einzelnen Phänomen muss wieder in Atmung und Resonanz gebracht werden, so dass statt linearer Kausalketten wieder Kreisläufe und Rhythmen entstehen. Das ‚Subjekt-Objekt‘ im Sinne der Quantentheorie (Heisenberg) muss verstanden, aktiviert und wieder hergestellt werden. Die Anleitung dazu ist Aufgabe der philosophischen Naturwissenschaft. Es gilt, das ‚Subjekt Erde’ als ‚Ganzheit‘ (Hegel: ‚an und für sich‘) zu begreifen.

c. Michel Serres: ‚Das Verbindende.‘ (2021) „Relire le relié“ (Wiederlesen und verbinden: ligare): Das wissenschaftliche Zerschneiden der Phänomene (Analyse, Experiment ohne Subjekt) zerstöre die Welt: „Die Auslöschung der Arten, der Klimawandel, die Umweltverschmutzung gehen auf dieses Projekt der ‚découpage‘ (s.u.), im Wortsinn also des Zerschneidens, der Lösung und Auflösung zurück, das einen Welt in Stücken, einen Ozean von Abfällen hinterlässt.“

d. Dazu Gehört eine Formation von Bewusstsein, Leben und Weltbild: Pillippe Descola: ‚Les formes du visible. Une anthropologie de la figuration‘. 2021. Es geht um die ‚Découpage‘, das Abschneiden aus Ganzheiten. Das Abendland (gr.-röm. Scholastik, Newton, Bacon) unterscheidet ‚Mensch‘ als geistbegabtes Wesen von nichtmenschlichen Wesen. Jüdisch-christlich: „Macht Euch die Erde untertan“. Berechtigung: Der Mensch ist ‚Ebenbild der Gottheit‘ (vgl. Gen. 1,3.), mit dem Hauch (Pneuma theou; Ruach, Hochma) des ‚Heiligen Geistes‘ (gr. ‚Sophia‘) begabt und darum den anderen Wesen überlegen. Anders in andern Kulturen: Im ‚Totemismus‘ liegt diese Trennung nicht vor. Tiere und Pflanzen gehören einem gemeinsamen Prototyp an. Erlebt wird in ‚Bildern‘ im Unterschied zur Logik der Schrift. ‚Landschaft‘ z.B. ist nicht isoliert, etwa im Sinne einer Karte, sondern erst in ihrer inneren Verwandtschaft mit den lebendigen Wesen (auch im ‚Toten‘ sind die Geiser lebend) ist sie wirklich. Die ‚morphologische Ähnlichkeit‘ entscheidet im ‚Animismus‘. (Die Masken der Jäger in Alaska haben ein geschlossenes und ein offenes Auge: Sie treten durch die Maske mit den Tieren in Verbindung. Im Auge des Jägers erblickt das Tier sich selbst und erkennt, ob dieser es wert ist, ihm den eigenen Körper zu Geschenk zu machen. (Im Neuplatonismus: Aktaion wird vom Jäger zum Opfer der Diana. Marsyas gegen Apoll. Erläuterung bei G. Bruno; Tizian in seinen ‚Poesie‘.) Der Täter-Opfer Tausch vollzieht sich in einer „Geschenkökonomie“ ( R.W. Kimmerer: ‚Geflochtenes Gras‘. Aufbau.2. 2021, S.41. Beispiel: Die indigenen Kultur indianischer Stämme.) Dazu gehört eine „Grammatik des Belebten.“ Die ‚lebendige Erde‘ verlangt Achtung und Respekt. Verweigert man sie (Monokultur, Pestizide, ‚cash-crops‘), geht sie zugrunde.

e. Ein Beispiel, wie erstarrte Ideologien auf das unverstandene Leben übertragen werden, zeigt sich im Neoliberalismus des 20. Jhs.: In der Übertragung materieller Maschinenvorstellungen der klassischen Physik kausaler, linearer Struktur auf die Kreisläufe des Lebens: Patente auf ‚Leben‘ unterbrechen die Kreisläufe, um durch den Bruch die Profite zu erzielen, das Wachstum finanziell zu steuern und die ‚Biomacht’ (Foucault) über den industriell-agrarischen Komplex zu erreichen. Wachstum ist dann nicht Förderung der Ernährung in gestaltreichem, nachhaltigem Leben in natürlichen Kreisläufen, sondern Leben wird zu einem Produktionsmittel unter den kapitalistischen Vorgaben von ‚Wachstum‘ Größe, Macht, Profit; Folgen: Sterben der bäuerlichen Hofwirtschaft; Finanzabhängigkeit bei Zukauf patentierter Samen; Verschuldung ‚Land Grapping‘, und z.B. gehäufte Suizide der Kleinbauern in Indien.

Mit der gleichen Ideologie wurden die kollektiven Güter der Existenz in der Verwaltung ziviler Institutionen als Aktiengesellschaften oder internationale Fonds zu Verwertungsgrößen. (Vgl. M. Seemann: ‚Die Macht der Plattformen‘). - Gesundheit wird in Krankenhäusern als Aktie zum Produktionsfaktor. Die unhintergehbare Größe der ‚Gesundheit‘ wird zum Steigerungspotential der Gewinne. Getaktete Abläufe verpreisen die Kommunikation und streichen alles, was nicht berechnet werden kann. (Den gleichen Trend sieht man in Altersheimen). - Internationale Immobilienfonds trennen die anonymen ‚Rentiers‘ von der lebensweltlichen Existenz der Mieter. Die ‚Découpage‘ macht eine Mietsteigerung bis zum sozialen Tumult möglich.

II.

Die folgende Betrachtung sammelt einige Phänomene, die zeigen, wie alte Muster auf neuem Grund weite Felder die Kultur prägen können.

Wir haben heute einen Paradigmenwechsel, der mit der Relativitätstheorie und Lebensbewegung einsetzt. Heisenbergs Schlusssatz seiner Schrift zur ‚Unschärferelation‘: „So wird durch die Quantenmechanik die Ungültigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt.“ - Dieses Weltbild ist noch gar nicht in die Praxis etwa der Medizin integriert (vgl. Lauterbachs Buch: ‚Bevor es zu spät ist‘: Es gibt bei ihm ‚nur das Paradigma der Wissenschaft mit evidenzbasierter Forschung‘. S. Interview  mit J .Kaube, FAS, 6. 3. 22). Der neue Ansatz ist ‚Öko‘, Nachhaltigkeit, Kreisläufe; ‚Achtung‘ und ‚Empathie‘ für und mit dem ‚Subjekt Erde‘. Das sind ‚Bausteine‘ für eine ‚Neue große Erzählung‘.

a. Hegels Satz: „Geschichte ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ zeigt die Förderung und den Zuwachs an eine verfassungsgemäße Bindung der ‚Humanität‘; sie wird erkauft mit ‚Découpage‘: Geld wird abstraktes Vergleichsmittel für alle Gebrauchswerte und macht sie abstrakt zum Tauschwert. (Im Moment des Kaufs wird das Brötchen zum Preis; sein Brotcharakter spielt keine Rolle. Der Kauf löscht die Erinnerung an die Kette im Fließprozess seines Werdens (Korn-Bäcker, Kaufladen): Folge: In einer reinen Verpreisung erlischt die Kenntnis der wesenhaften Substanzen (‚Spaghetti wachsen auf der Wiese‘).

b. Privatwelt und Öffentlichkeit scheiden sich (Habermas). ‚Religion‘ wird ‚Privatsache‘. Die Säkularisation des Rechts kann seine Grundlagen nur bedingt rechtfertigen.

c. Das ‚naturwissenschaftliche Weltbild‘ (Galilei, Kepler, Newton, Bacon, J.C. Maxwell, Materialismus des 19. Jh.) koppelt sich ab vom Erlebnis, Empathie und Subjekt durch den Apparat des Experiments und seiner mathematischen Formalisierung. Mathematik kennt kein individuelles, moralisches Subjekt. Vorteil: Die analytischen Teile (Zahlen; Gestalte als ‚Kurven‘) können formal integriert werden.

e. Goethe sagt in seiner ‚Morphologie‘ (‚Gestaltlehre‘, MA 12, S. 16): „Die ganze Lebensstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere Element…schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie das, was ihrem Innern spezifisch obliegt, vollbringe.“ Unser spezifisch ‚Inneres‘ ist die ‚Spontaneität des Ichs‘ (Kant). Die kann ich an die Maschinen abtreten und unterwerfe mich ihren Algorithmen. (Vgl. Zuboff.) Bei schwacher Ichidentität wächst das das Bedürfnis nach einem ‚Stütz-Ich‘, nach einer gepanzerten Hülle: Ich umgebe mich mit ‚Computern, Screens, Smartphones als Stütz-Hüllen‘, mit Apps, welche die Ganzheiten fragmentieren und in einer Reality-Illusion wieder herstellen. Mustererkennung wird mit Intelligenz verwechselt.

f. Das schwache Ich kann auch die ‚festen Gedanken‘ aus Angst vor dem Zerfließen in eine gepanzerte, fanatische Ideologie umsetzen, die als psychischer Panzer die Begrenzung leistet, die das schwache Selbst nicht schafft. Die ‚Identitären Bewegungen‘ sind dafür ein Symptom. In der Singularisierung (Reckwitz) stilisiere ich mich als ‚Opfer‘ und gewinne im ‚Diversen‘ einen ‚Feind‘, der mich von außen mit einer Hülle als Panzer versieht. (Traurigster Extremfall: Putins Paranoia führt im Inneren zu Kontrollverlust: Körperverfall, Alterung, Angst vor Ermordung und Umzingelung, ,Verlust der Utopie Sowjetrussland‘. Der Kontrollverlust braucht den psychischen Panzer, den er in reale Panzer umsetzt, um ihn in der Aggression zu fixieren. Im Grunde ist das ein typisches Hooligan-Verhalten.) -Auch die Kluft als Signatur der ‚Zugehörigkeit‘ stiftet ein Korsett. Botox und Maskengesichter verschleiern die Ich-Unsicherheit. Die ‚Singularisierung‘ führt zur Fragmentierung, die den Stützpanzer braucht und sichert, indem sie jede Diversität als Feind betrachtet. Das   ‚gefühlte Ich‘ in seiner Sozialisation ist immun gegen eine rationale Abstraktion der bürgerrechtlichen Person. (Z.B. ‚Cancel-culture‘). Der Genderstern wird zum Totem.

g. Die folgende Sammlung von Stichworten möchte (wie der ganze Text) einen Resonanzboden für die ‚Neue große Erzählung‘ bieten: Einige ‚Labels‘ und Begriffe kennzeichnen den Zeitgeist: Curt Smith gründet das Duo ‚Tears for Fears‘; Song: ‚Mad world‘. ‚Shout‘ (1991) und parallel dazu ‚Schreitheater‘ plus ‚Urschrei‘-Therapie. Der Rock-Sänger Roland Orzabal singt über ‚My Demons“. Der Journalist M. Scholz fragt ihn in der ‚WamS, 6.3. 22, ob die Musik die Kraft hat „Menschen zusammenzuführen“. Orzabal antwortet : Sie ist die „Nahtstelle zwischen deinem Gehirn und deinem Unbewussten. Smartphones mit all ihren Apps und sonstigen Angeboten leisten das nicht. Sie fügen nicht zusammen, sie fragmentieren alles.“ - Der heutige Nutzer genießt in der Fragmentierung seine ‚Découpage‘. Er tritt seine autonome Aktivität an die Passivstellung des Apparats ab, der ihn psychisch wie ein ‚Legospiel‘ zusammenhält. Die Karosserie des Autos wird zur Hülle, die das Subjekt illusionär stützt und vor dem ‚lebendigen‘ Leben schützt mit dem Versprechen, seine Autonomie zu fördern. Das ‚autonome Fahren‘ ist die völlige Abtretung von Autonomie an die Maschine. - Michel Houellebecqs ‚Ausweitung der Kampfzone‘ mischt Penislängen, Kapitalismus, gefühlte Intimität im Labyrinth der Sabotage zu einem ironisch-kritischen Panorama der Gegenwart. - Richard Sennett zeigt in seinem ‚Der flexible Mensch‘ wie sich die linearen Strukturen der linearen Fließbandwelt umwandeln in einer globalen, volatilen Finanzwelt und sich im Multitasking ausfalten. - Heute binden prekäre Vertragsverhältnisse Leistung und unterdrücken Kreativität. Forschung läuft nur über fremdgesteuerte ‚Drittmittel‘. Olivia Laing schreibt über ‚The Lonely City‘: Einkapselung und Ausgesetztsein des Individuums in einsamer Masse kennzeichnet die Gegenwart (wie schon in Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘). Die polare Entsprechung ist das ‚Rudelgucken‘ oder das gemeinsame Stadiongeschrei. Den Fluchtraum kennzeichnet das Buch von Brigitte und Elmar Engel‘s ‚Wildnis- und Abenteuer-Kochbuch‘: Lagerfeuer statt LED, Natur statt Beton, selber kochen statt Bofrost (wenn du Geld hast!). (Vgl. WamS, Lit. Welt, Nr. 10, 6.3.22). Dort stellt Julia Franck fest (S.1): „Kein deutsches Kartellamt kann die Fusion internationaler Konzerne und Monopole verhindern. Wo Ökonomisierung von Kultur und Bildung voranschreitet, wächst die Zahl der Analphabeten und die Abhängigkeit der Urheber vom Markt, ihre Vielfalt wird verdrängt.“ Literatur verschwindet aus den Medien und die Verlage retten sich in ein „Pop-up-Engagement.“ Entsprechend haben wir im Mainstream eine ‚Eventkultur‘.

h. Die ‚Découpage‘ der Lebenswelt von der digitalen Realität (‚Screen‘ statt ‚Präsenz) ‚fixiert‘ die „Hülle“ (die persönliche Aura) in der Matrix der Formate. Wird die Erstarrung der ‚Hülle’ als Verlust des ‚Lebendigen‘ (Goethes ‚zartes Wesen‘) erlebt, setzt ein Sinnsuche ein: Z.B. der ‚Religious Turn‘ (Habermas), Esoterik, Naturflucht, ‚Life‘-Events, Spaß, Betäubung (Drogen), Block-Buster, Krimis, Gefühlskitsch. ‚Heimat‘.

Etwas emphatisch gesagt: Die digitale Gesellschaft  erlebt eine ‚metaphysische         Heimatlosigkeit.‘  Etwas ‚Metaphysik‘ im Philo-Zirkel mag abhelfen.