Naturphilosophie im Gespräch im Philo-Zirkel der Patriotischen Gesellschaft. Skizzen zur Erinnerung.

Dr. R. Schönsee

1. Skizze (21. Oktober 2021)

Naturphilosophie entwickelt ihre Urphänomene aus Gegensätzen. Die Urpolarität ist nach Hesiod die Polarität von Licht und Finsternis, als Götter: Die Verbindung des Ouranos mit Gaia (Himmel und Urmutter Erde). Urlicht und Finsternis sind nicht sichtbar, es sei denn, es tritt ein Medium in ihr Spannungsfeld: Dann entstehen die Farben. Eine lichte Farbe ist Gelb. Nach Goethe ist ihre Gegenfarbe Blau. Aus der polaren Verbindung beider entsteht das Grün. Das Grün unserer Erde ist ein biologischer Gürtel in der Mitte von Licht und Finsternis. - In Platons ‚Timaios‘ entspricht der Polarität die Sphäre des Geistes und die Gegensphäre als Materie. Beide würden sich nie berühren, würde die Weltseele sie nicht als verbindendes Band umschlingen. Dieses Modell verwandelt sich im Laufe der Naturphilosophie je nach System vom 15. Jh. wenigstens bis zu Schelling.

Ein zweites Gesetz liegt den Naturphänomenen zu Grunde: Ein rhythmisches Prinzip im Modell von Einatmen und Ausatmen (Goethe: ‚Systole und Diastole‘); genauer: von ‚pressen‘ und ‚entlassen‘; verengen, erweitern; stauchen und entfalten (Stengel: Blatt; Fruchtknoten: Blüte z.B.). In der Alchemie heißt die Vorschrift: „Solve et Coagula“: Löse und verbinde.

Wir haben die vier Elemente gemäß der Tradition betrachtet:

Erde, Wasser, Luft, Licht (Feuer)

Wir haben mit den Prinzipien gespielt: z.B.: Wasser wird zu Dampf bei seiner ‚Entlassung‘; zu Eis bei seiner Pressung. Erde kann sich verbinden zu Sumpf; als Mittleres: Humus; als Totes: Sand. In Analogie: Knochen (gepresst) gegen Fleisch; Totes als „Weiß“ gegen Lebendiges der ‚rosige Farben‘. Wurzel gegen Blüte.

Ein dialektischer Prozess kann angenommen werden: Licht gegen das Nichts der Finsternis steht in Analogie zur Fülle des Seins gegen das Nichts: aus der Synthese ergibt sich (nach Hegel) das „Werden“. Natur ist als ‚Werdendes‘ immer ein Fließendes. Will man sie mit dem Verstand ‚verstehen‘ muss man sie stillstellen, fixieren, d.h. ‚de-finieren‘; oder im physikalischen Experiment: töten für die mathematische Beschreibung. Daraus ergibt sich die Frage: Wie entwickelt man den ‚lebendigen Begriff‘?

Zur phänomenologischen Übung gingen wir von Novalis aus: „Alles spricht“: „Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliches Sprechen. Lehre von den Signaturen.“

Wir diskutierten den Artikel von Peter Hennig (FAS, 13.9. 21): ‚Haustiere kommunizieren mit ihren Besitzern. Aber auch Schmetterlinge?‘ Henning zeigt, wie man mit ihnen ‚sprechen‘ kann. Falter kommunizieren in einem Bewegungsspiel. Viele Tiere kommunizieren im Spiel: Delphine ‚nennen‘ sich im Spiel beim Namen. Präriehunde haben eine Sprache, um Eindringlinge zu beschreiben. – Christian A. Thiel berichtet (H.A., 25.9. 21) von der Eiche „Kim“‚ die zum ‚Star‘ im Internet geworden ist. „Kim“ zeigt in ihren Signaturen ‚Emotionen‘ über die Darstellung ihrer Blätter. Messgeräte können Saftfluss, Töne, Wachstum in eine Daten-Sprache übersetzen. - Der Umgang indigener Völker mit der Natur wird zur Anregung für nachhaltiges Gestalten. Die Früchte der Natur sind ihre ‚Gaben‘; sie erwartet darum Gaben vom Menschen zurück. Macht er die Frucht zur bloßen Ware, vernichtet er das empathische Beziehungsgeflecht. Beispielhaft ist die Arbeit der indigenen Forscherin Vitoria Tauli Corpuz, vorgestellt auf dem Klimagipfel zu Glasgow. Ihr Projekt hat ein Waldschutzprogramm initiiert gegen die Abholzung der Wälder in Brasilien. Wald als Bewahrer des Ökosystems: Waldschutz gegen Kohlenstoffhandel, also gegen die Umwandlung der „Gabe“ in „Ware“. - Das Buch der indigenen Biologin Robin Wall Kimmerer: ‚Geflochtenes Gras‘. ‚Die Weisheit der Pflanzen‘ (2013; dt: 2021) wurde zu einem Bestseller in Amerika. Wir haben daraus Anregungen übernommen und das Buch zur Mußelektüre empfohlen. - Wir sind natürlich nicht nur mit unserem Atem, sondern auch durch Haut und Sinnen mit unserer kosmischen Umwelt verbunden. Die beiden Nobelpreisträger Ardem Pataputian und David Julius haben die Rezeptionsdynamik unserer Sinne über die Gene und Ionenkanäle beschrieben, die zeigen, dass die Sinnesphysiologie genauso zu den Signaturen gehört wie etwa die Gestalt einer Blüte.

Geschlossen haben wir die Gesprächsrunde mit dem Satz des Novalis: „Könnte die Natur nicht über den Anblick Gottes zu Stein geworden sein? Oder vor Schreck über die Ankunft des Menschen?“ Die Sedimentierung der Gebirgswelt aus dem Urwasser wäre durch den „Schreck“, die plötzliche Pressung (Coagulation) entstanden. Der Mensch hat den ‚Schrecken‘ der Natur mit Hilfe kommerzieller Technik als ihr Ausbeuter gesteigert.

 

2. Skizze (11. November 2021)

Von Novalis‘ Vorschlag: ‚Alles spricht‘ gingen wir zur erweiterten Betrachtung auf das Verhalten der Bienen ein. In einem Tanz beschreiben die ‚Kundschafter-Bienen‘ die Blütenorte. Tanz als Band zwischen Natur der Geister und den Menschen ist bei vielen indigenen Völkern ein Verbindungsmittel zu Göttern und Nahrung. ‚Aufklärung‘ hier, Pestizide dort zerstören den Orientierungssinn. - Zugvögel und Bienen verlieren immer öfter ihre Peilung durch massive Veränderung der Magnetfelder. Frequenzen wie 5G wirken negativ auf den Neokortex kleiner Kinder. Unsere ‚Umwelt‘ ist schon lange nicht mehr unsere Mitwelt‘, sondern eine Gefahrenzone. Naturphilosophie fragt nach Heilung.

Versetzen wir uns in die Honigbiene, die mit anderen über tausend Kilometer fliegt, um für uns einen Löffel Honig zu sammeln. Achtsamkeit heißt hier: Man gehe die Nahrungskette durch von der Biene über Imker zu Händler, Verteiler, Preisbildung etc. bis zu unserem Löffel. Indigene Völker würden so eine Betrachtung als Aufforderung zum Dank an alle Glieder der Kette verstehen. Wer beim Preis Schluss macht, wird den philosophischen Horizont nicht entdecken.

Bienen messen ihre Zeit nicht, sondern orientieren sich an die Rhythmen der Brutpflege, Temperatur, Jahreszeit etc. Die Bezeichnung ‚Arbeitsbiene‘ ist ‚kapitalistisch‘. Bienen sind Pfleger der Nachkommen, schützendes Kollektiv und sind u.a. kenntlich an ihrem Bewegungston; Drohnen summen ca. eine Terz tiefer.

Der Zeitbegriff trat in unser Interesse.

Newtons Zeitbegriff als lineare ‚Geschwindigkeit zu Weg‘ wird maßgeblicher Teil der mechanischen Formeln. Ihre technizistische Eigenschaft ist ihre Reversibilität und völlige Unabhängigkeit vom Beobachter. Subjekt und Objekt treten auseinander.

Mit Descartes beginnt die Trennung von ‚Res cogitans‘ (dimensionslose Welt des Geistes) und der Res extensa (Welt der Physik in Raum und Zeit).

Diese Trennung zwischen Geist und Materie war elementar für das naturphilosophische, technizistische Weltbild zwischen ca. 1700 und 1900. Die kosmische Ordnung verlief im Modell eines Uhrwerks. Die seelische Welt gab es dort, wo Vernunft regiert. Tiere haben darum keine Seele und man kann mit ihnen wie mit Gegenständen umgehen.

(Das Folgende ist eine gewaltige Verkürzung der Geschichte. Die knappe Darstellung Paul Feyerabends in: ‚Naturphilosophie‘, stw 2257, S.303ff wird empfohlen.)

Mit Kant hatten wir den ‚gestirnten Himmel über uns‘ (als Welt I) und die ‚moralische Welt‘ (II) in uns. Im 19.Jh. galt die stillschweigende Verabredung: Physiker erforschen die ‚Res extensa‘ (Welt I). Philosophen denken über die geistige Welt (Welt II) nach. Newton brauchte noch einen Gott, weil seine Gravitationsbewegung irgendwann an Schwung verliert, so dass das Weltall implodieren würde. Gott muss es geben, um dort wieder einen Anstoß zu geben. Napoleon erhielt die berühmte Antwort des Laplace auf die Frage, wo denn bei ihm der Gott sei: ‚Sire, diese Hypothese habe ich nicht nötig.‘ Gott war im 19. Jh. aus der Natur verschwunden. - Schon die Gasgesetze waren ein Einwand gegen die Reversibilität Newtons. Völlig verändert wurde das Bild mit Aufkommen der ‚Lebensbewegung‘ (Bergson); zum anderen mit Einsteins Relativitätstheorie; noch entschiedener mit der Quantentheorie. Subjekt und Objekt waren im Experiment wieder verbunden. (Goethe nahm diese Verbindung vorweg in seinem Aufsatz: ‚Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt.‘ 1792.)

Unter der technizistischen Physiklehre Newtons lief immer ein Unterstrom: Die romantische Naturphilosophie, die Goethe als ihren Vater verstand, und über Novalis und dem späten Schelling eine christlich-esoterische Entwicklung nahm; sie wurde von Franz von Baader wirkmächtig vertreten, um am Ende des 19. Jahrhunderts in der ‚Theosophie‘ und dem ‚Goetheanismus‘ wieder aufzutauchen.

Beide Strömungen muss eine moderne Naturphilosophie zusammenführen.

Die Biologen verfolgten immer schon einen anderen Zeitbegriff: Wachsen, Vergehen; Metamorphosen und Assimilation im Gang der Tageszeiten; Leben und Tod als Vorentwurf eines neuen Lebens vollzogen sich in rhythmischen Zyklen. Biologische Rhythmen haben  Entsprechungen in den kosmischen Zyklen.

Naturphilosophie verlangt heute eine zyklische Zeitvorstellung; darum sind Kreislaufmodelle für die Nachhaltigkeit unverzichtbar.

Goethes Satz: ‚Alles Lebendige braucht eine Hülle‘ bot ersten Zugang zu der Frage nach dem Lebendigen. Z.B. Borke, Zellmembran oder Haut sind ‚atmende‘ oder pulsierende Hüllen bis zu den Elektronenhüllen (‚Elektronenorbitelen‘), um die spezifische Zirkulation zu sichern.

Die Hülle des Lebendigen leitete über zur aktuellen Diskussion der Corona-Fragen.

Wir machten eine Vorübung: Zwei Personen gehen mit gestreckten Armen und offenen Handflächen mit geschlossenen Augen aufeinander zu: Ziel ist, die Wärme des anderen zu spüren und dann innezuhalten. Die Frage war: ‚Wo höre ich auf und wo fängt der andere an?‘ Es ergab sich, dass eine physische Grenze nicht bezeichnet werden konnte. Uns ging auf, dass wir ja auch im Raum uns alle in molekularer Art eingeatmet und ausgeatmet hatten. Wie ist das Kollektiv zu individualisieren? Wir entschieden, dass nur unser Bewusstsein der eigenen Ichidentität die Leibesgrenze bestimmt; hinzukommen Empfindungen, die als meine ins Bewusstsein treten. Die Aura des anderen ist eine Tatsache als Phänomen des Bewusstseins.

Wir gingen zur Diskussion der Thesen Elisabeth von Thaddens über in ihrem Buch: ‚Die berührungslose Gesellschaft.‘ Beck Vg. 20018.

Was geschieht mit den physischen Grenzen hinter der Screen oder unter der Maske? Welche ‚Hüllen‘ des Lebendigen werden geschädigt, wenn Selfies die Ichidentität sichern sollen und die Aura im Homeoffice hinter den Apparaten verschwindet? Der Kontakt zu den Dingen wird problematisch, weil nur das Display eine nekrophile Haptik bietet. Wir sind „alone together“, ohne gemeinsamen Atemraum, versingelt und „unterkuschelt.“ Gerade darum tritt das „Körperkapital“ in den Vordergrund (Fitness, Kosmetik etc.), weil bei fehlender Aura eine technische Figuration als Ersatz gesucht wird. Die Lust an ‚Biomacht‘ (Foucault) in Verbindung mit der bedrohten Lebendigkeit führt zu Paranoia, narzisstischer Selbstexpansion, in Umkehr: zu Depression und zu Hassmails in der distanzierten, anonymen Kälte des Internets.

Die erlebte Resonanz (Rosa) fehlt, weil sie nur technisch übermittelt wird. Naturbegegnung wird zum ‚Schock‘, weil die virtuelle Welt als real gilt.

Naturphilosophie reflektiert hier die Beschädigungen der Humanität und den Empathieverlust gegenüber der Natur.