Kulturkrise-Kantfragen Ergebnisse

Der intuitive Wertekonsens, den die Antworten auf die ’Kantfragen‘ nahelegt, ist in Zeiten von Facebook und Twitter unsicher geworden. Die ‚Diskurshoheit‘ hat sich verschoben und bildet die Friktionen im soziokulturellen Bereich ab.

a. Auf der Ebene des soziokulturellen Bereichs

Die soziokulturelle Erfahrung der modernen Kunst als intuitive Erfahrung des Alltags begegnet in der Gesellschaft der ‚Singularitäten’ (Reckwitz) einer neuen Herausforderung ihrer Vermittlung. Hier nun die Ergänzung zu den ‚Kantfragen zur Kunst’ im Workshop vom 1. März 2018 im Philozirkel-Hamburg als stichwortartige Zusammenfassung (Schönsee).

 

1. Die Gesellschaft der Singularitäten. (Reckwitz). Kulturelle Indizien sind z.B. Selfies. Sie dienen der Versicherung eigener Identität und deren Selbstoptimierung: Die Peperoni-Strategy: Spice up your Life. (‚Summer Camp‘); sie spiegeln aber auch die individuellen Fragmentierungen.

2. Event, Erlebnis, Emotions-Kultur stehen dem Verlust von Gedächtnis, Geschichte, und Tradition gegenüber. Ein historisches Erfahrungskontinuum fällt aus. Religion, bzw. Esoterik oder fanatische Ideologiesierungen dienen als Sinnanker und Stütze gegen die Gefahr innerer Leere.

3. Multikulturalismus überlagert den nationalen Kommunitarismus. Transgender steht gegen Segregation der Werte. (Dekludierung). ‚Singularität‘ führt zur ‚Atomisierung der Verantwortung‘ (Deneen). Die Leerstellen in der Kultur führen zur ‚Ausdünnung der öffentlichen Moral‘ bei Minderheiten-Verhalten über GG § 6: individuelle Freiheit als Privatschutz der Singularitäten für Religion und Lebensformen. (Joppke)

4. Wettbewerb der Narrative. Die ‚wahre‘ Erzählung steht in Konkurrenz zu den ‚fake News‘. Die intuitive Erfahrung des Alltags kann sich nicht in den Medien widerspiegeln, weil ihr Gebrauch in der Selbstbestätigungsfalle der ‚Singularitäten‘ gefangen ist.

5. Virtualität, ‚Fake News‘, Bilder-und Faktenschwemme werden nicht mehr nach verbindlichen Normen gefiltert. Kunst im ‚Palast der Körper‘ (Kassel); ‚Hyperrealitäten’ im Videospiel, die Selbstversicherung über Smartphone, führen zum Verblendungsmoment von Realität und Fiktion.

6. SMS: Sprache ohne Konjunktionen: Logische, begründende Strukturen fallen aus. Folge: Die Mehrheit scheitert an komplexen Texten. Die Tradition der Dichtung in der Erfahrung als Klang, Vers und Kulturraum sinnstiftender Formen fällt aus. Es gilt nur noch der ‚Flattersatz’ wörtlicher Rede im Roman. Dagegen stehen emotionale Betroffenheitstexte. Theater: Die Dekonstruktion des ursprünglichen Mediums für ein gebildetes Publikum im Selbstverständnis der Adelsbourgeois in Gestalt des Ersatz-Palastraums ist vollständig. Das Theater wird Erlebnisraum im Performance-Stil; Emanzipation der ‚Peripherie‘ (Beamer, Mikro, Location: Geschrei statt Monolog). Die Emotionale Kontakt-Kunst, egal ob Theater, Musik oder Dichtungsrezeption, lebt von der Gemeinschaftshoffnung (‚Rudelgucken‘), welch die ‚einsame Masse‘ in ihren ‚Singularitäten‘ sucht. Augenblickserfahrungen, Gemeinschaftsgefühle als Grenzerlebnisse überlagern deutlich die geistige Verarbeitung der autoreflexiven Strukturen und deren Inhalte. Dazu helfen die Wechsel der Kontexte in auratisch-aufgeladene Räume: z.B. Scheune, Turm, Erlebnisdampfer, Vogelhaus, ‚Aura Venedig‘ der Biennale oder ‚Athen‘ mit Kassel.

7. Die Neue Mittelklasse (Reckwitz) sucht in Alleinstellungsmerkmalen ihrer Lebensqualitäten (‚Vegan‘) den Status als Chance der Selbstentfaltung zu spezifizieren. ‚Selbst‘ Kochen nach Meisterart, Erlebnisreisen, Privatschulen, ‚Clubs‘. Parallel geschieht die Deklassierung der ‚Neuen Unterklasse‘ (Modernisierungsverlierer). Sie fallen aus dem Modell der ‚Singularitäten‘ aus. Sie sind auch für die ‚Bezahl-Kunst’ als ‚Kontakt-Kunst‘ irrelevant.

b. Die ästhetische Diffusion im soziokulturellen Bereich

Kurzfassung des Halbjahresprojekt 2018 ‚Was leistet Kunst heute‘

Im Philo-Zirkel der ‚Patriotischen Gesellschaft‘ haben wir, ausgehend von der Biennale, der Documenta, der Konzert– und Theaterwelt heute eine Orientierung versucht. Drei Phänomene haben wir ausgemacht. Wir haben habe dazu die Begriffe aus der gegenwärtigen Diskussion zu entwickeln versucht.

Leitfossil war Adornos Bemerkung: „Geist in den Kunstwerken ist kein Hinzutretendes, sondern von ihrer Struktur gesetzt“ (S. 274).

 

Die drei Kulturen:

1. Die Kultur der informierten Rezeptionseliten: ästhetischen Rezeption als Erwartung an die ‚‘ästhetische Form‘ als Träger von Inhalten. Sie ist offen für eine Begegnung mit der Transzendenz (Geist: Im Sinne Kandinskys: ‚Über das Geistige in der Kunst‘). Die Erwartung: Jede Kunst trage ihren Geist schon in der Struktur.

2. Der Eventkultur: Hier werden Peripherie, Apparat und der ‚Beifang‘ der informierten Kultur zum Kern. Die Leere füllen auratisch aufgeladene Kataloge und Rezeptionshilfen. Die Eventkultur hat Angst vor der Transzendenz (s.1) und dekonstruiert darum die Geisterfahrung.

3. Die Kontakt-Kultur: Sie ist ein Emotikon der Smartphones und erfüllt sich als virtuelle Icherfahrung der einsamen Gamer als ‚Follower‘ mit der Folge einer repressiven Kontakt-Illusion. Geist wird in der Kontakt-Kunst zu Makulatur. Kontakt-Kultur ersetzt Geist durch Algorithmen.

(Zusammenfassung der Diskussion ‚Eventkultur‘ im Philozirkel, Halbjahr 2018, Dr. R. Schönsee)

 

Die Langfassung „Was leistet Kunst heute“ finden Sie hier...