Kants Fragen an die Elisabethaner und an uns

Philozirkel, Schönsee:

1. Was kann ich wissen?

Es gilt die doppelte Wahrheit: Die Wunder der Bibel gelten. Die Kosmologie steht in Frage: Wo ist Gott in der ‚Unendlichkeit der Welten‘? Lebensgefühl: Das Leben ist ein Rollenspiel auf dem Theater der Welt. Die Elisabethaner sind im Labyrinth der Fortuna. Signaturen und Isomorphien stehen vor Kausalitätsmodellen. Hermetismus stiftet eine okkulte Chance, durch den ‚platonischen Wahnsinn‘ (Raptus), Begeisterung und Liebe zum ‚Deus absconditus‘ , dem verborgenen Gott, sich anzunähern. Ersatzwelt für die christliche Sinnstiftung ist die neuplatonische Umdeutung antiker Mythen. Die moralisch aufgeladenen Mythologien der Antike gelten als „Poesien“ (Tizian), die man wie Impresen und Emblemata ausdeuten kann als eigene Sinnstiftung. Utopien führen auf das ‚Goldene Zeitalter‘ im Sinne der Medici: „Le temps revient": Das sind die symbolischen Narrativen einer Wiederkehr der ‚Goldenen Zeit´ des Saturn nach Vergil. Zugleich wird Cesare Borgia der Held Machiavellis. Alchemie, Wunderkammern, aristotelische Wissenschaft im Kampf mit neuer Physik und Hermetismus bilden noch ein unentflochtenes Amalgam.

 

2. Was soll ich tun?

‚Fortuna‘ wird ‚am Schopf gepackt‘ (den Kairos ergreifen: den glücklichen Tatmenschen belohnt Fortuna (Machiavelli). Vier Eigenschaften führen zum Ziel: 1. Prudentia (Klugheit; Leben in Kontemplation); 2. ‚Virtù‘ (Tatkraft: Handeln aus Machtwillen ohne Gewissen); 3. Imaginatio: die kreative Phantasie des Künstlers; 4. Amor (göttliche Liebe und sinnliche: ‚Venus coelestis‘ und ‚vulgare‘). Wobei gilt: ‚Omnia vincit amor‘ (Vergil): Alles besiegt die Liebe. Das ist das Ideal des Künstlers als Ingenium und der Neuplatoniker.

Unsicherheit herrscht über die Person im Rollenspiel (über das ‚Selbst‘, engl. ‚self‘). Montaigne: Wir sind ‚buntscheckige Fetzen‘ (vgl. Kleidung!). Das Leben zeigt sein Janus-Gesicht: Ideale Konversation auf dem Landgut mit reichem Mäzen; plus große Taten als ‚Eroberer‘ in der Welt, in der Repräsentanz als neuer Herkules (die Medici als Fürsten) oder als keusche Diana (Elisabeth I.). Ziel ist die Verbindung beider Welten (Venus Coelestis und Vulgaris‘), den himmlischen Menschen, den ‚Neuen Adam‘ zu gewinnen: Leben als Lust und göttliche Ergriffenheit durch Liebe. ‚Pandora‘ wird zur ‚Neuen Eva‘. Die Folge ist eine Genderunsicherheit: Der Androgyn ist die Ziel- und Leitfigur in der festlichen Repräsentanz (z.B. Franz I.) und auf dem Theater. (Shakespeares Rollentausch der Geschlechter z.B.). Die Perspektive sichert den Fluchtpunkt und versichert dem Betrachter einen Standpunkt und damit auch eine Restauration seiner Ich-Unsicherheit.

 

3. Kunst (Selbstreferenz ohne kategoriale Zwänge)

1. Hoher Stil nach antikem Muster. 2. ‘Dolce stil nouvo‘ (Dante): Volkssprache in der Dichtung. Kunst soll mit Horaz: nutzen, erfreuen und zu höherer Sittlichkeit führen durch den sinnlichen Reiz und die Schönheit in einem göttlichen, antikisierenden Mythenwelt-Narrativ (auf dem ‚Parnass‘, bzw.‚Belmont‘, dem ‚Neuen Jerusalem‘). Mittel: Mos; Maß (Ordnung), Proportion, Harmonie der Farben und Töne; Einpassung des Mikrokosmos in den Makrokosmus durch Mimesis (Nachahmung) mittels göttlicher Vision des Genies. Genaue Kenntnis von Handwerk, technischen Mitteln, Meisterschaft. Das Urteil der Eliten, was Kunst ist, ist verallgemeinerbar. Kunst ist immer auch Repräsentanz des Mäzens und Sinnpropaganda durch Allegorien und Embleme, durch Signaturen, die den ‚Eingeweihten‘ sich erschließen. Die Perspektive sichert eine neue Ordnung im Kosmos, in der Architektur und im Bildaufbau.

 

4. Was darf ich hoffen?

Melancholie ist der Grundtenor: Weltverlust und Werteverlust führen zu Selbstunsicherheit und Angst vor dem Abgrund der unendlichen Welten. Daneben ist eine festliche Lust der Leichtigkeit des Lebens Ausdruck der gelebten Diesseitigkeit bei Verdrängung des Abgrundes. Die Unsterblichkeit der Seele wird bejaht (Ficino) und bestritten (Pomponazzi). Die Unsicherheit führt zu Systembrüchen (Republik versus Tyrannis, feudaler Diktatur oder repräsentative ,ständische Forderungen, religiöse Erlösungsutopien: Savonarola). Das Zeitalter geht über in die Glaubenskriege, Inquisition, Dogmatismus, Reformation. Die christliche Botschaft von der Freiheit des Menschen und seine Verantwortung für die Welt (Ficino, Pico) gilt, wie auch das Liebesgebot (Ficino). Die Auferstehungsdogmen werden (z.B. Tizians ‚Assunta‘) zelebriert, ohne dass die Brüche mit der neuen Kosmologie in der Kunst beunruhigen.

 

5. Was ist der Mensch?

Der Mensch ist begabt mit allen Mitteln und Organen des Kosmos (Ficino) (er hat ‚alles‘), bzw. er ist völlig frei von jeglicher Spezialisierung (Pico) (er hat ‚nichts‘ bis auf die Vernunft): Sein Wesen ist Handeln aus dem eigenen, freien Geist. Er kann zum Gott oder zur Bestie werden. Der Mensch ist Herr über die Natur; er ist das ‚Mittelwesen‘ zwischen Geistwelt und Materie. Die Weltseele, die Intelligenzen der Planeten, finden ihre Spiegelung im Geiste des Menschen. Seine Gestalt ist im goldenen Schnitt eine Formation aus dem höchsten Gestaltkörper Platons, der Quintessenz, dem Pentagondodekaeder. Die Architektur und der Aufbau der Bilder spielgelt diese Proportionen geometrisch wider.