Bei den Philosophen seit Aristoteles beginnt das Fragen nach der Welt mit dem Staunen. Dabei stießen wir im letzten Halbjahr auf den Reiztitel: „Warum es die Welt nicht gibt“ (von Markus Gabriel, Berlin 2013.) und staunten: Wir saßen in der Falle. Denn wir befanden uns nämlich mit Heidegger gerade „in-der-Welt“. Wir waren offenbar zu sehr der „Geneigtheit des Daseins“ gefolgt, „an seine Welt, in der es ist, zu verfallen“: Da kamen wir wieder heraus durch die Auslegung der ‚Wahrheit‘, durch Heideggers berühmte „Aletheia“. Sie ist das „geöffnete Seiende im Ganzen.“ Tja, und dieses Ganze sollte es nun nicht geben.
Wie zaubert Gabriel das Ganze weg? Um zu wissen, „was das Ganze soll“ (Gabriel), sollen wir erstmal alle Vorläufer vor Gabriel vergessen. Und mit der Nonchalance des jungen Helden, als sei er vom Himmel gefallen, bietet er uns sein ‚Facetten-Modell’ der Nichtwelt an. Wir erkennen nur „Gegenstandsbereiche“ als „Sinnfelder“, nie aber das „Ganze“, in dem sie erscheinen. Darum kommt „die Welt in der Welt nicht vor“.
Es fällt auf, dass bei Gabriel ein seltsam passiver Geist die Sinnfelder erschließt. Sie „erscheinen“ ihm. Bei dem Satz: „Der menschliche Geist hat die Eigenschaft, dass er… sich…selbst ausknipsen kann“, ging uns ein Licht auf: Gabriels Philosophie passt genau in das Zeitalter des Anklickens und Ausklickens: Du klickst deine Datei an: Das Sinnfeld ist da.
Du kannst unendlich viele Dateien anlegen; knips: Da ist eine Realität; du knipst sie weg; dann wieder eine neue an: Du hast ein anderes Sinnfeld. Klar: Nie erscheint uns der Algorithmus (bei Gabriel: die Welt) der Maschine: Aber dass er nicht in dem jeweiligen Knips enthalten ist, würde keiner bestreiten. Das ist auch politisch klasse: Es geht immer um Sinnfelder, die das Interesse verbrämen; es kann gar nicht um „das Ganze“ gehen.
Unser „Kernsatz“ in unseren Philo-Gesprächen ist ein Zitat nach Wittgenstein: „Es gibt keine Grenzen, aber du kannst welche ziehen.“ In die Fließbildern des Geistes, in Hegels „lebendigen Begriff“, tauchen wir mit unseren Begriffen ein: Dann stellen wir das ‚Werden‘ tot, definieren, also umgrenzen einen begrifflichen Horizont: Dabei entgleitet uns die lebendige Welt. Hegel hat eine Methode entwickelt, wie aus dem Zusammenstoß von Sein und Nichts dialektisch das „Werden“ gewonnen werden kann.
Als Problem ist das ein alter Hut, den sich schon Goethe aufgesetzt hat mit den Versen:
„Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.“
Man muss die „ernsten Spiele“ Platons treiben, um im Vielen das Eine zu erkennen. Darum war der Schlachtruf der Tübinger Stifter, Hegel und Hölderlin: „Henk kai pan“: ‚Eins und Alles‘. In der Tradition hieß das: „Omnia ab Uno“ (Alles aus Einem).
Gabriels Sinnfelder sind das „Viele“, die „Omnia“. Das Integral über seine Sinnfelder kann er nicht ziehen. Darum geht ihm die Welt als „Ganzes“ verloren. Und weil Gabriel die Schultern der Riesen, auf denen er steht, wegillusioniert, sieht er nicht, dass Husserl schon in seinen „Anschauungsmodi“ und „Stufen des Sinns“ längst vorgearbeitet hat, die Welt zu retten.
Ziemlich von gestern ist Gabriel in der Meinung, in „den modernen Naturwissenschaften geht es...um die Welt ohne uns.“ Das ist seit Heisenberg falsch und ist in der Quantentheorie nicht haltbar.
Gabriels Buch war für uns ein guter Resonanzboden, um in die Fragen der Philosophie einzutauchen. Wir befragten die „Riesen“.
Reinhart Schönsee