Material zu: ‚Freiheit, Big Data, Mündigkeit‘:

Die vorbereitende Diskussion in diesem Semester beruhte vor allem auf vier Texten:

1. Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus Vlg.2018.

2. Hustvedt, Siri : Die Illusion der Gewissheit. Rowohlt Vlg. 2018.

3.Teuchert-Noodt, Gertraud: ‚Interview‘: „Cyberattacke auf die Nervennetze des Gehirns.“

   umwelt.medizin.gesellschaft./ 30/ 3/ 2017.

4. Plessner, Helmuth: Philosophische Anthropologie. Stw.2268. Suhrkamp 2019.

Die Zusammenfassung als Begriffsgerüst finden Sie in den Materialien I-III.

I. ‚Freiheit, Big Data, Mündigkeit‘

Konstitutive Grundlagen der Gattung Mensch:

1. „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung.“ (Herder)

2. Er ist der „Invalide seiner höheren Kräfte.“ (Herder)

3. Der Schöpfer schuf „ein Gebilde ohne besondere Eigenart, ohne besondere Gaben,“: durch „eigenen Willen“ aus Vernunft (‚ratio‘) wird er „Bildner seiner selbst“: er kann ins „Tierische entarten“ oder „in das Göttliche“ streben. (nach Pico della Mirandola: ‚Über die Würde des Menschen‘)

4. Der Mensch hat ‚Würde‘ zur konstitutiver Grundlage: Er hat den freien Willen, um sich aus der Spontaneität des Ich durch Vernunft ein Gesetz zu geben, nach dem er handeln will. (nach Kant)

5. Jeder Mensch ist „ein Anfang“ und setzt aus seinem Bewusstsein eine Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er hat Geschichte und entwirft seine Zukunft. (nach Augustinus)

6. Der gelungene Selbstentwurf misst sich am „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. (Hegel)

7. Der Mensch ist das Wesen, das Sprache (Logos) hat, die er vernünftig gebrauchen kann. (Aristoteles) „Es ist aber weit schwerer, die Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“ (Hegel)

8. Sprache erzeugt wenigstens 4 kulturelle Felder:

1. Die Distanz zur Objektwelt, die zur Umwelt wird: Das Fließbild der Wirklichkeit setzt Sprache in ein Feld der Abstraktion durch Begriffe

2. Sie erzeugt die Beziehung zum Du, ohne die Sprache nicht gelingt, und damit eine Mitwelt, in welcher jeder aus seinem freien Willen sprechen kann mit der Maßgabe der Freiheit im Regelfeld der kommunikativ geteilten Gesetze. Mitwelt verlangt Achtung vor der Freiheit des Anderen, Mitgefühl (Empathie) und Verantwortung.

3. Eine ‚Werkwelt‘ durch technologischen Gebrauch des Verstandes, um durch Werkzeuge die ‚Invalidität‘ zu kompensieren.

4. Sie erzeugt ein Feld der Phantasie, der Kreativität und Kunst, losgelöst von den Zweckens der Existenz. (Plessner, Portmann, Uexküll u.a.)

9. Die Ausartung in Tyrannis, in rigorose Ideologien, in religiösen Fanatismus, Rückfall in die selbstgewählte Unmündigkeit durch Verlust einer vernünftigen Mitwelt ist möglich. Die postkonventionelle Vernunft (Habermas) fällt bei Auflösung ihrer anthropologischen Grundlagen in den Fetischismus der Vergangenheit zurück. Aggressionen gegen den „Anderen“ folgen bei Zerstörung der Kultur des DU.

10. Der Mensch. ist das Wesen, das Lachen kann; das sich selbst in Frage stellen, und Denkverbote (‚Alternativlosigkeit‘) auflösen kann. Gegen Tyrannei hilft nur die Gegenmacht der ‚Mitwelt‘ aus Vernunft und Empathie.

 

 

II. Stichwörter ‚Freiheit‘ und ‚Big Data‘

(nach Hustvedt, Zuboff, Teuchert–Noodt u.a.)

I. Big Data umgreifen die Maschine und die Instrumentalisierung des Verstandes und koppeln sie ab von der Kreativität der Vernunft: Verlust des „Lebendigen Begriffs“. Die Aggregation mathematischer Gedankenketten in der Logik der Zweiwertigkeit sind für die Wahrheitserfahrung dysfunktional (‚Gödel‘): Der „eingreifende Geist“ fällt aus (Nous Poietikos). ‚Zahl‘ stellt sich vor ‚Gesicht‘ (Kassner).

II. Das Gen-Modell für KI ist unbiologisch: Gene unterliegen der „Entwicklungsplastizität; sie sind keine Stellschrauben bzw. Programme. KI reduziert Gedächtnis: Medien-User setzen im Gehirn ihre Versorgungszentrale auf psycho-kognitiver Ebene außer Kraft. (T-N.) Die intrinsisch gesteuerte Reifung des Kinderhirns hält nicht mit der zu schnellen Taktung mit .(T-N): Folge: Enteignung der hirneigenen Rhythmen. Verengung der Blickwinkel; Verlust lebendiger Fließbilder und Unfähigkeit zur Abstraktion als hermeneutischer Prozess. KI produziert ihre Ergebnisse als meine.

III. Identitätsübertagung auf die Maschine ‚Prädikative Features‘ (Z) werden zur pseudo-religiösen ‚Prädestination‘. Die zufriedene Akzeptanz von Big Data führt zurück in „die selbstverschuldete ‚Unmündigkeit‘. (Kant) Ohne ‚Spiel‘, Erdung, Rücksicht, Achtung und Empathie mit dem Anderen verfallen Menschen in eine „erlernte Hilflosigkeit“; (‚dann kann man ja gar nichts mehr essen‘). Folge: ‚Burn out‘ oder infantile Aggression: Toleranzparameter schmelzen weg. Der PC gewinnt Automagie durch ‚Belohnung‘: Gefühl der ‚Selbstranszendenz‘: „affective computing.“ Ich bin mein ‚Take‘, mein ‚Selfie‘ als Selbstersatz.: Folge: Infantilisierung, Beziehungsregression; „fear of missing“; keine‚ Likes‘. Die ‚Privatsphäre‘ wird marktfähig.

Die ‚Ichabtretung‘ an Big Data wird ersetzt durch starke Hüllen: Der User genießt das entlastende Glück in der Auflösung des Ichs im Kollektiv und genießt den Fremdzwangs (Motorrad-Panzer, Rudelgucken. Gruppenidentität der Fans, ‚Identitäre‘; parallele Clan–Gesellschaften: Das Kollektiv steht über dem Einzelnen. Kollektive ‚Follower“ suchen Ganzheit in der ‚repressiven Entsublimierung‘ (Marcus) der Eventkultur. „Spaß“ steht über der ‚Anstrengung des Begriffs‘ (Hegel) : Auch bei KI in der Schule! Sätze in konjunktiven Gliedern werden nicht mehr verstanden. (‚weil‘, ‘indem‘, ‚um zu‘). E-Mail-Muster prägen die Leseleistung.

IV. Trennung von „nature“ und „nuture“ (Biologie von Kultur).‘Natur‘ ist Rohstoff; Kreisläufe und Nachhaltigkeit sind nicht Ziel von Big Data. ‚Victus‘ (Nahrungsgebrauch),‘Cultus‘ (Symbolgebrauch unverfügbarer Werte) und Rollenverteilung in gesicherten Mustern verlieren den Zusammenhang. Das ‚Streaming‘ ersetzt autonome Erinnerung und Kulturfertigkeiten der Überlieferung. Der Computer wird zum Gedächtnisersatz und zum Entlaster von Verantwortung. Die Zuteilung von Macht auf demokratischer Grundlage verliert Legitimität durch KI-Manipulation. Die Bindung an die Werte der Verfassung (‚Würde‘, ‚Grundrechte‘) gilt in diversen Parallelgesellschaften nur noch fakultativ. Wahlmanipulationen delegitimieren die Verfahren.

KI lebt im Techno-Paradies eines ‚autopoietischen Systems‘. Umwelt, Nachhaltigkeit, Empathie, Leid, Zuneigung ,Würde gibt es nicht (Härte/ Kälte gegen Fließen/ Wärme.). KI trägt keine soziale Verantwortung. Die Ideologien der globalen Machtvernetzung des ‚Internationalen Finanzkapitals‘; des ‚rüstungsmilitärischen Komplexes‘, der Großindustrien gelten als alternativlos und ‚to big to fail’; Machtstrukturen sind ‚to big to jail‘. Modernisierungsverlierer erfahren einen modernen Feudalismus.

 

 

III. ‘Freiheit, Big Data, Verfügbarkeit‘ nach Rosa (u.a.)

Thesen zur Diskussion

(Hartmut Rosa (R): Unverfügbarkeit. Residenz Vlg.2. Aufl. Wien. Salzburg 2019.)

1. Verfügbarkeit: Antriebsmoment, sich die Welt verfügbar zu machen durch:

a. technische Rationalität und/oder

b. libidinöse Besetzung der Lebensfelder,

c. strukturelle und

d. institutionalisierte Gewalt.(R. S. 99ff). Ursache ist die „Angst vor dem Immer weniger“. (R.S. 15)

2. Unverfügbarkeit konstituiert menschliches Leben und menschliche Grunderfahrung.

3. Die Grenze zur unverfügbaren Welt ist zum „Aggressionspunkt“ geworden, weil sie sich der Nutzung, des ‚zur Ware werden‘ für Profite, der ‚Kommodifizierung‘ (R.109), den Optimierungszwängen im Konkurrenzdruck der Globalisierung widersetzt.

4. Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit stehen im Spannungsverhältnis von „nature“ und „nuture“. (H) Das „pulsierende Leben“ (Goethe) in Kreisläufen wird durch Verfügbarkeit instrumentalisiert und durch Algorithmen ersetzt. (KI) Es wird zum Funktionsbegriff technischer Steuerungen. Die ‚Wärme‘ des Lebens wird kaltgestellt. „Coolness“ (R. S. 30f) Das Echo der Auflösung kehrt als Kippbild und ‚Monster‘(R. 124f) zurück.

5. Verfügbarkeit verlangt nach „Macht, die eigene Reichweite zu vergrößern.“(R.S. 24) Psychologisch z.B.: Suche nach Selbsttranszendenz (H) auf Facebook.

6. Wir erfahren uns als Subjekt und die Welt als Objekt im Prozess der Verfügbarkeit. (R.S. 11) Die Trennung ist eine Auflösung der ursprünglichen Inklusion. Die Grenzziehung geschieht durch rationale Praxis und Begriffsdefinitionen. Identifizierung der Welt nach Nutzen.

7. Die „paradoxe Kehrseite“ (R.S. 25): Die Verfügbarmachung provoziert im Unverfügbaren ein „Echo“. Das Aufeinandertreffen von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit erzeugt einen „Resonanzpunkt“ (R. 37) Das Echo ist ein „Sympathie-Erlebnis“ (oder ein ‚Monster‘): Welt und Ich stehen im gemeinsamen Raum von Leiden und Lieben: ‚Würde‘ wird auf die Welt übertragbar. Darum ist „Resonanz konstitutiv unverfügbar“. (R. 44) Das Resonanzerlebnis liebt den „geglückten Augenblick“ (R.49); es ist ein Kreativerlebnis, das

in der Kunsterfahrung und –produktion begegnet. (Dag. PC.S. 55). Dazu gehört die „Flow-Erfahrung“. (R. 63)

8. Beobachtungen, wo die Garantiesuche nach Verfügbarkeit den Resonanzcharakter zerstört: Geburt, Bildung Beruf, Digitalisierung (R.S. 85);.Urlaub. Pflege. Tod.

9. Bedingungen struktureller Gewalt und Zwang zur Optimierung.(99ff).Wer trägt Verantwortung bei KI. (vgl. R. S. 106)?

10. Unverfügbarkeit des Begehrens. (R. 116) KI (R. 118). TINA.(RS.127). Entfremdung.