Der Ursprung der Zeit aus dem Bewusstsein des Menschen

Von R. Schönsee

Das Schema knüpft an den Satz Herders an: ‚Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung‘, nun aber mit Betonung auf das Zeitmodell: der ‚Erste‘.

Was war davor? Die großen Mythen der Weltkulturen bieten alle den Versuch, die Unsagbarkeit des Zeitlosen in Worte zu fassen.

Die Hymne des Rig-Veda ( X.129) feiert den ‚Ursprung der Dinge’:

„Nicht war Nichtseiendes noch war Seiendes damals.

Nicht war der Luftraum..(alles war) ein tief verborgener Abgrund….

Das Werdenden, das von Leerheit zugedeckt war,

dies eine ward durch die Macht der Kasteiungsglut geboren. …

Die Götter sind diesseits durch die Erschaffung von Diesem;

Wer weiß also, woher es entstanden ist?

(Rig-Veda, Hg. Peter Michel. marix Vg. B.I,S. SXIII)

 

Die meiste Mythen kennen ein Vernichtung der ersten Schöpfung und setzen eine neue Schöpfung mit einer Zeitalterlehre fort (im ‚Diesseits‘, etwa nach der ‚Sündflut‘) .So beginnt das erste neue Zeitalter im Rig-Veda mit den sieben Söhnen (= Zeitalter) der Aditi (der Urmutter). Die vier Zeitalter Hesiods prägen die abendländisch Lehre. Entscheiden ist für unsere Frage ist: Diese Zeitalter der zweiten Schöpfung gebären Menschen, die mit ihrer Sprache die Dinge mit Namen versehen und kommunizieren können. Der Mythos betont „the power of formulated speech and of naming things“, wie Witzel ausführt. (E.J. M. Witzel: ‚The Origins oft the World’s Mythologies.‘ Oxford. Unv. Pr. 2012.)

In Hegels Zeitverlauf ist die Geschichte ‚Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‘. Übersieht man die Mythen, so ist parallel dazu der Zeitbegriff ein Fortschritt des Zeitbegriffs im Bewusstsein der Menschen, parallel zum Zivilisationsprozess der Individualisierung. Die „ewige“ oder die zirkularen Zeit wird in der zweiten Schöpfung zur „time line“ mit der Entwicklung des Homo sapiens. (Witzel, S. 184). Die ‚lineare Zeit‘ wird über die Zeitalter hinweg allmählich zum Steuerungsmodell des Kulturbewusstseins. Zeit wird ein Steuerungsmodell des Abendlandes etwa über die Kirchenglocken, typisch verbunden mit einem Arbeitsrhythmus, welchen dann die Uhren ablösen. Soziologisch konsequent deuten die Cartesianer den Kosmos als Maschine und die Materialisten des 18. Jahrhunderts den Menschen. Damit geht aber stetig ein Prozess der Emanzipation und Aufklärung parallel. So gründet das Bewusstsein von Individuum und Existenz bei Kant in der Zeit.

Der Satz des Augustinus: ‚Der Mensch ist geschaffen, damit ein Anfang sei‘ (In: ‘De civitate dei‘), gewinnt damit seine volle Bedeutung im Narrativ der Mythen.

Hegel sah die Anfänge der abendländischen Dialektik im Trinitätsmodell, wie es die Patristik im 4. Jahrhundert entwickelt hat. Seinen Zeitbegriff entwickelt er in seiner ‚Logik‘ parallel zu dem Narrativ der Mythen: „Das Nichts ist als dieses unmittelbar sich selbstgleiche, was das Seyn ist.“ Das ‚Dasein‘ als Werden ist darum die dialektische Einheit beider: „Werden ist der wahre Ausdruck des Resultats von Seyn und Nichts.“ ( Encyklopädie. Logik, § 88.) (Davon geht das Schema unten aus.) Der Mythos zeigt diesen Prozess in Bildern (Rig-Veda 10, 129.4.): „Über dieses kam am Anfang das Liebesverlangen, was des Denkens erster Same war,- Im Herzen forschend machen die Weisen durch Nachdenken das Band des Seins im Nichtsein ausfindig.“ Das Werden als lineare Zeit verbindet sich in den Mythen oft mit einer neuen Triebenergie ( ‚Liebe, Amor, Sündenfall); so dass wir von vornherein ein ‚tragisches Bewusstein‘ mit der Bildung des Zeitbegriffs verbinden.

Für die Astrophysik beginnt der Anfang mit dem ‚Urknall‘. Dieser hat aber durchaus mythische Eigenschaften, wenn wir die Astrophysikerin Lisa Randall lesen (‚Dunkle Materie und Dinosaurier. Das Problem des Anfangs‘) lesen. Ein Ergebnis lautet: „Weder der Urknall noch der Übergang in ein raumfüllendes Universum ist mit den Gesetzen der Physik zu erfassen. Der ‚Urknall‘ ist eine ’Singularität‘.“ Als Narrativ stellt er sich in die Reihe des metaphysischen Paradox, welches die Philosophie des Abendlandes durchzieht: der Punkt, der Zugleich sein Umkreis ist. Wir dürfen darum die Narrative als gleichberechtigt behandeln.

Der Zusammenhang von Freiheit, Dasein in der Zeit und Existenz ergibt sich aus Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (A 51/ B220, A 123, A 33). Ich fasse zusammen: Vorstellungen sind Voraussetzung für die Spontaneität der Begriffsbildung zur Erkenntnis eines Gegenstandes. Vorstellungen müssen in der Zeit nacheinander erscheinen. Dabei bewahrt das „Ich denke“ die Identität der Person im Fluss der Vorstellungen. So wie das Ich im Erkenntnisprozess „ bleibt“, so „bleibt“ auch die Zeit und „wechselt nicht“. Die Zeit ist darum Form unseres „inneren Sinns“ als Grundlage des Erkenntnisvermögens und kann darum „keine Bestimmung äußerer Erscheinung sein.“(A 33) Als Bedingung des Zeitbewusstseins steht die Zeit als „Form“ darum jenseits der ‚Zeit‘. Zeit ist Erzeugnis unseres Bewusstseins. Die Chance, aus eigner Spontaneität Begriffe zu bilden , liegt in der „Autonomie der Vernunft“, also deren Gebrauch „aus Freiheit“. „Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft “.(B 766) „Der Horizont der Erkenntnis ist die Zeit, in welcher Denken und Sein beschlossen ist.“ (B 50 ) Denken und Sein, Erkenntnis und Ethik, entspringen also „einer Wurzel“ (A 863). Beide verbindet das Gefühl der Achtung als Grundlage der Humanität, eingebunden in Gestalt der Erinnerung. Sie bindet uns an die Kultur wie an das Prinzip der Wahrhaftigkeit. Unsere Freiheit wird bedingt durch die Vernunft als ethischer Parameter, der Verantwortung setzt für die Natur als Schöpfung (‚natura naturans‘ mit Spinoza und Cusanus) und für die Natur (‚natura naturata‘) als die vom Menschen geschaffene Natur ( etwa durch Technik). Weil wir aber in der ‚Natur‘ als Wesen in Wechselwirkung leben, gehören wir zur ‚Ganzheit des Kosmos‘. Damit schließen sich beiden Betrachtungen: Wir können für Tiere sprechen und Uhrzeit und Lebenszeit unterscheiden, weil wir „ ein Anfang sind“.

Um den Zeitbegriff zu verlebendigen, haben wir Christoph Ransmayrs Roman „Cox“ gelesen. Die mechanische Uhrzeit spiegelt sich im Roman in der mechanischen Gliederung der chinesischen Welt als Organigramm der Masse. Der geniale Uhrmacher Cox schafft einmal eine Winduhr aus Windwirbeln und Stille, aus dem Chaos eines „ kindlichen Zeitlaufs.“(S. 91). Zeit und Dauer, Lebenszeit und Ereignis werden immer wieder im Roman thematisiert. Zum Schluss schafft Cox ein Perpetuum mobile: Das Versprechen, die mechanische Zeit in die Ewigkeit zu verlängern und die Mechanik des Räderwerks auf Dauer zu stellen. Cox übergibt dem Kaiser die Schlüssel für die Uhr. Doch am Schluss verzichtet der Kaiser darauf, die Uhr in Gang zu setzen. Der Kaiser ist „Herr der Horizonte“, aber es fröstelt ihn bei der Vorstellung, dass die nachkommenden Generationen unwiderruflich in „Fächer aus Skalen“ eingebunden sein würden. Der „ kalte Hauch“ der Uhr führt zur Erkenntnis, die lebendige Zeit nicht der Uhrzeit zu opfern. Wenn wir uns als Herren der Zeit wissen, können wir ihrem Stress entgehen; wir können im Zeitlauf kreativer Muße philosophieren oder im Kuss die Unendlichkeit im Augenblick genießen. Philosophie begrüßt die Winduhr. Weil wir ein ‚Anfang‘ sind, liegt das Lebendighalten oder Totstellen der Zeit bei uns.