Zur Diskussion im Philozirkel (Schönsee) - Bericht 2020

"Der Traum der Vernunft produziert Monster"

Goya, Capricho Nr. 43, 1799

I. Wir haben in den vergangenen Semestern (2019) die philosophischen Implikationen des ‚Überwachungs-
kapitalismus‘ (vor allem nach Zuboff u. Hustvedt neben vielen anderen) besprochen. ‚5-G’ und ‚KI‘ bedingen sich wechselseitig. Hinter der Einführung der Hard- und Software in allen Lebensbereichen war ein gewaltiges Profitinteresse auszumachen.

1. ‚KI‘ ist ein Mustererkennungsprogramm. Es ist binär konstruiert (Ja/ Nein) und bildet in Muster gebrachte Realitäten ab. ‚Deep Learning‘ ist die vielzählige Überlagerung des Musters, so das seine Bilder immer genauer werden. ‚KI’ ist stockdumm.

2. Die glückliche Einfalt der Ichabtretung an die Maschine kommt der sanften Kontrollgewalt entgegen. ‚Alexa‘ ist das klügere Selbst. Das Gedächtnis steckt im Smartphone. - Die ‚Automagie’ des „affective computing‘ führt zu einem Pseudoleben im Cyberspace. Bei dem harten Aufprall auf die Realität wird bei den Modernisierungsverlieren die ‚Loser-Situation‘ getroffen: infantile Aggressionen oder die Rückkatapultierung in den Glücksraum als kollektive Wahnideen (Verschwörungstheorien) sind die Folge; die Identifikation mit den Helden der Neomythologien (‚Thor‘, ‚Arthus‘ etc.) schaffen Sieger- und Opferverhalten. Wo Identität fehlt, wird man gern ‘identitär‘.

3. ‚5-G‘ gefährdet die intrinsische Reifung des Kinderhirns (Teuchert-Noodt). Elektrosensible Menschen sind die Antennen der Gefährdung. Die ‚autopoietischen Steuerungsmodelle‘ (z.B. Autos) brauchen ‚5-G‘. Wie Intelligenz bei ‚KI‘ ist Autonomie das Gegenteil seines Begriffs: Die völlige Abtretung der autonomen Entscheidung an die Algorithmen.

II. Es besteht eine Affinität unserer ‚KI-Welt‘ mit den materialistisch-mechanischen Modellen des 18. Jhs. Die Welt galt seit Descartes, Newton, Leibnitz als Maschine.

1. La Mettries ‚L’Homme machine‘ (1748) beschreibt den menschlichen Körper nach Newtons Modell als ein System maschineller Prozesse. Jacques de Vaucanson erfindet ( noch vor Arkwright) die Spinnmaschine und zugleich  seine „Automaten“, den ‚Flötenspieler‘ oder den ‚Essensschlucker‘. Mozart komponiert für eine Maschine. Epochentypisch ist, dass eine Parallele besteht zwischen der Dampfmaschine und der Begeisterung für Automaten, also für die Bereitschaft zur Übertragung des Maschinenmodells auf den Menschen.

2. Seit Descartes sind Seele und Geist ein ‚Res cogitans‘ (eine denkende Sache). Völlig davon getrennt war die ‚Res extensa‘ (Raum. Zeit, Wirklichkeit der Welt). Schillers Dissertationstitel als Arzt ist bezeichnend: ‚Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen.‘ (Wir haben Ausschnitte gelesen.) Zur Verbindung erfindet Schiller eine „ Mittelkraft“ zwischen „Geist und Materie“. Die ‚Mittelkraft‘ wohnt in den ‚Nerven‘. Der ‚Nervengeist‘ wird durch ‚Sensationen‘ (Reize) verändert. Er braucht ein ‚Organ‘, das weder Sinn noch Seele ist, um als „Denkorgan“ im „allgemeinen Sensorium“ zum „Instrument des Verstandes zu werden.“ Schiller nennt das „materielles Denken“ (in ‚Philosophie der Physiologie‘).

Schiller war durchaus auf der Höhe seiner Zeit. Neben seinen Schriften haben wir die französischen  Salons der materialistischen Großintellektuellen beachtet: Die Enzyklopädisten wie Diderot,  D‘Alembert‘, Lavoisier trafen  sich im Pariser Salon des Atheisten Holbach. Seine ‚Briefe an  Eugénie‘ waren ein Bestseller für die ‚Damen‘. - 1758 erschien der Skandaltext des Claude-Adrien Helvétius: ‚De l’esprit‘: ‚Vom Geist‘. Die Partien über das Denken haben wir uns angesehen. Er schreibt: „Geist“ sind „Eindrücke“ des „physischen Empfindungsvermögens“, das im Zusammenhang mit dem Gedächtnis „allein alle unsere Ideen hervorbringt“. „Freiheit“ bleibt ein „Mysterium“; kognitiv ist sie ein „Synonym für „einsichtig“. „Geist“ ist aber doch nicht ganz ‚KI‘: „Der Geist ist nichts anderes als eine Vereinigung von neuartigen Ideen und Kombinationen.“

Die ‚Kombinationen‘ sind „Wissen“ auf der Ebne von ‚KI‘. ‚KI‘ bleibt beim Kombinieren stehen. Neue Ideen liefern die „Genies“; aber die seien selten. Der ‚Geniebegriff‘ führte uns u.a. auf Kants ‚ Kritik der Urteilskraft‘, die wir ausführlicher gelesen haben .Goethe machte sich den Geniebegriff nach Kant als ‚Intellectus archetypus‘ zu eigen.

3. Bei Epochenumbrüchen, in denen neue Techniken aufkommen und alte Weltbilder untergehen, entstehen Ängste, die, wie Goya schreibt, in ‚Überspanntheiten‘, Torheiten‘ und ‚Vorurteile‘ umschlagen. Entsprechend formuliert er in seinem ‚Capricho’ Nr. 43 als Inschrift: „Der Traum der Vernunft produziert Monster“. (1799). In der Tat: Man grub Leichen aus, um sie wie ein Vampir mit Blut zu beleben oder auszusaugen. Diese Bewegung ging so weit, dass Maria Theresia sie 1755 verbieten ließ. Schillers ‚Geisterseher‘ war ganz im Trend. Gespenster, ‚Magier‘ (z.B. Cagliostro) erscheinen in finsteren Räumen. Die ‚Dialektik‘ der ‚Aufklärung‘ (nach Adorno und Horkheimer) ist nicht nur eine Angelegenheit des 18. Jh.: Auch heute setzt die ‚KI‘ eine Wahnproduktion in Gang. Die illusionären Parallelwelten nannte Kant das „Paradies der Phantasten“.

III. Wir haben die Entwicklung der Kulturphilosophie unter dem Leitmotiv der „Ernsten Spiele“ betrachtet: Von Platon über Cusanus bis zu Kant und Schiller.

Wir haben versucht, den philosophischen Spielbegriff zu aktualisieren: Die Erfahrung des ‚freien Spiels’ unserer eigenen Kräfte (also die Freiheit nicht logisch urteilen zu müssen oder nach Normen der Sitte zu handeln oder fremdbestimmt den Willen einzusetzen), eröffnet dem Ich die spielerische Erfahrung seines ‚Möglichkeitssinns‘. Tritt er in die Wirklichkeit ein, hat er wenigstens zwei Intuitionen bewahrt:

1. Er wird fixierte Ideologien durch das ‚Spiel‘ in Lösungen bringen: Ein Toleranzmodell wird sichtbar.
2. Überall, wo Zugänge zu diesem ‚Spiel‘ grundsätzlich verbarrikadiert oder strukturell verhindert werden, hat er ein Sensorium für die Inhumanität dieser Wirklichkeit.

Das Corona-Virus hat die Umsetzung verschoben. Wir sind beim 15. Brief der ‚Ästhetischen Briefe‘ Schillers stehen geblieben.

Darum möchte ich einen Gruß an die Philofreunde senden, mit dem Voltaire seinen ‚Candide‘ beschließt: „Il faut cultiver notre jardin.“  ‚Notre jardin‘, den wir ‚kultivieren‘ sollen, ist unsere Erde, unser Garten Eden.