Problem: Kollektivistische Kulturen und individuelle Menschenrechte. Beispiel Islam.

 

Zur Vorbereitung der Diskussion, wie kollektivistische Kulturen zur Würdigung der individuellen Menschenrechte aus eigener Tradition heraus gelangen könnten, haben wir nach den Problemen gefragt, die kollektive Gesellschaften (z.B. ‚Umma‘) haben, um sie anzuerkennen. Unsere Grundlage war u.a. die Darstellung des „Prozesses der Zivilisation“ von Norbert Elias. Nach seiner Darstellung gehören kollektivistische Kulturen, an europäischen Standards gemessen, der Vergangenheit an. Wir mussten uns erst einmal
mit der Islamdiskussion vertraut machen, um die Möglichkeit auszuloten. (Sö)

1. Kant

 

Kant: (5. Dezember 1783): Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

a. Mündigkeit: Befreiung aus Theokratie, Despotismus, feudaler Herrschaft, aus kollektiven Sittenzwanges: Selbstbestimmung.

b. Mut: Durch Vernunft sich gegen die herrschende Eliten zu stellen, bzw. sie zu gewinnen. Aufklärung geschieht in einem langen Prozess: Aus eigenem Gewissen handeln; nicht nur Regelbefolgung nach ‚Leitung anderer‘; individuelle Person sein: Anerkennung der Menschenwürde; Gleichheit von Mann und Frau. Ichidentität entwickeln. Verantwortung als meine Verantwortung annehmen.

c. Gleichheit und Würde aller Menschen erfordert ein politisches System, das Gedankenfreiheit, Würde und Recht sichert gemäß einer transparenten Vernunftordnung. Also: Prozessrecht nach gemeinsam gegebenen Gesetzen; Freiheitssicherung durch Gewaltenteilung. Wahlrecht für die Mitglieder der Gemeinschaft als Staatsbürger.

d. Klare Trennung zwischen Zivilgesellschaft: Öffentliche Ordnung gemäß einem Grundgesetz. Und Privatgesellschaft: Die Chance „ohne Angst verschieden leben“ (Adorno) zu können. Jeder ‚Zivilbürger‘ achtet die Meinung der Anderslebenden und die Würde aller in der Privatsphäre: Alle aber treten in der Öffentlichkeit unter das gemeinsame Gesetz aus der Souveränität des Bürgers. In Deutschland: Es gilt das Grundgesetzt und das BGB.

 

2. Adonis

 

Adonis (Ali Ahmed Said Esber, DIE ZEIT, 11.12.2014, S. 49):

„Es hat nie eine arabische Modernität gegeben. …Im Kern hat sich die arabische Kultur seit fünfzehn Jahrhunderten nicht verändert. Sie negiert die Freiheit des Individuums, sie negiert seine Rechte, sie negiert die Weiblichkeit. …Die arabischen Länder sind bis heute reine Stammesgesellschaften. Wenn die Muslime von einer echten Revolution träumen, müssen sie zwei Dinge tun.

(1)Sie müssen Religion und Staat trennen.  (2) Und sie müssen die Frauen befreien.“

 

3.Trennung von Religion und Staat

 

Trennung von Religion und Staat. Bedingung: Der Koran ist ein Text.

Der Koran ist „geschaffen“; das Diesseits ist durch Wissen und Vernunft auslegbar. Dazu Sure 3,5: „Es gibt keinen Gott außer Ihm…(5): Er ist es, der dir das Buch geoffenbart, unter dessen Versen manche deutlich klar sind, sie sind die Grundlage des Buches, andere aber unklar. Diejenigen, in deren Herzen Verderbtheit ist, folgen den Unklaren unter ihnen, Verführung verfolgend und Deutung erstrebend, aber niemand außer Gott kennt ihre Deutung. Die in der Erkenntnis Festen aber sagen: Wir glauben daran, alles ist von unserem Herzen. Jedoch nur die Leute verständigen Herzens denken so.“

Der große muslimische Mediziner und Alchemist al-Razi (864-925) vertraut seinem „verständigen Herzen“, der Vernunft, grenzenlos: „Mit Hilfe der Vernunft erreichen wir alles, was uns erhebt und unser Leben versüßt und verschönt, und durch sie erfüllen wir unseren Zweck und unser Verlangen“ (Schiffbau, Kosmologie, Medizin: all das verlangt und sichert Vernunft.) Natürlich wurde er wegen Blasphemie angeklagt. Sein Hauptwerk „Über das Prophetentum“ ist darum zwar verloren, doch kann man den Inhalt aus den Gegnerschriften ableiten: Nach al-Razi sind von Natur aus alle Menschen gleich und gleichermaßen mit Vernunft begabt; diese darf nicht zugunsten „eines blinden Glaubens verworfen werden“; Propheten nennt er „Geißböcke mit langen Bärten“.

Der Koran ist für ihn ein Gemenge zusammengebundener Fabeln. Sein Hauptbeweis — und das gilt für die Textkritik noch heute — sind die vielen widerrufenen Verse: Gott kann nicht irren und sein gesprochenes Wort als Irrtum widerrufen. (Vgl. Abu Al-Adjnabi: ‚Warum ich kein Muslim bin‘. Berlin 2004, S. 366, S.166) Hier liegen die Chancen, Religion von einem nach Grundrechten geordneten Staatswesen zu trennen. (Vgl. 8)

 

4. Der Koran ist „geschaffen"

 

a. Die Journalistin Khola M. Hübsch sagt, dass die Aufklärung „ihren Ausgang beim Koran nehmen müsse“. Ihre Organisation „Ahmadiyya Muslim jamaat“ tritt für die klare Trennung von Religion und Staat ein.

b. Die europäische Textkritik des Korans zieht die Überlieferung, dass Utman den Koran vollständig gesammelt habe (644 -656), gut belegt in Zweifel. Johannes von Damaskus
(gest. 750) ordnet die Religion der Ismaeliten unter die christlichen Häresien ein. Er ist sich mit dem Kardinal Cusanus darin einig, Mohammed habe ursprünglich Erfahrungen in einer christlichen Sekte gemacht.

Entscheidend sind die Forschungen von Karl-Hein Ohlig/Gerd R. Puin (Hg): ‚Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam‘. Berlin 2007. Auf die radikalen Ergebnisse des Forschers Christoph Luxenberg sei hingewiesen. Der Ansatz: Die Quraisch, der Stamm Mohammeds, seien eigentlich „Confoederati“ (auf arabisch eben Quraisch) des Kaisers Heraklius gewesen. Heraklius habe die Perser 622 besiegt. Darum ist das Jahr von Bedeutung. Als ‚Hedschra‘ wird es erst im 9. Jh. erwähnt.

„Muhammad“ bedeutet der „Gepriesene/Gelobte“: Frühe Münzzeichen mit MHMT ab 659 weisen auf diese Bezeichnung: Sie bedeutet aber im christlichen Kontext „benedictus“ und ist ein Prädikat für Jesus. „Muhammad“ war ein christlicher Titel wie „Abdallah“ (Knecht Gottes): Prophet, Gesandter, Messias. Die Ehrenbezeichnung löst sich von Jesus ab und ‚Muhammad‘ konnte auch als Person gedeutet werden. „Abdallah“ wird dann zum Namen des Vaters ‚Mohammeds‘. Zur eigenständigen Religion sei der Islam im 8. Jahrhundert geworden. Die „defektiven“ Schreibungen im Koran weisen auf eine syrische Grundschrift hin. Die Sprüche des Korans seien nach dieser Deutung Luxenbergs und J.M.F. Van Reets (2006) dafür gedacht, die Thora und das Evangelium auszulegen und ihre „Übereinstimmung“ (Islam) zu zeigen. (vgl. zu Ohlig/Luxenberg/Reet: Beilage zur Wochenzeitung das Parlament. 26-27/2007. 25.Juni 2007)

Man kann mit Angelika Neuwirth den Koran einmal als Heiligen Text und als ästhetisches Werk lesen, zugleich aber auch als ein Zeugnis der Spätantike, das „eine formative Epoche ihrer eigenen Geistesgeschichte“ überliefert. (vgl. FAZ, 16. 4. 2012, S. 7)

c. Wie man auch zu den Ergebnissen stehen mag, fest steht: Der Koran ist von Menschen zusammengestellt worden und Menschen dürfen ihn textkritisch behandeln. Damit ist ein Ausgangspunkt im Sinne von Khola Hübsch gesichert. Ein gute Zusammenfassung bietet: Andreas Goetze: Religion fällt nicht vom Himmel. WBG 2014 (4. Auflage!)

 

5. Der Inner-Muslimische Ansatz

 

a. Hier ist der historische Ansatz gegeben bei den „Mutaziliten“, die besonders von den abbasidischen Kalifen (al-Mahmun, al-Mutaschim und al-Watiq) um 840 gefördert wurden. Die Mutaziliten vertraten die Ansicht, der Koran sei als Gottes Rede in der Zeit entstanden. Damit konnten die Kalifen sich von den religiösen Traditionalisten befreien und eher nach „weltlichen“ Maßgaben regieren. Das war kein „säkularer Staat“, aber es gab dazu einen Ansatz. - Al-Ghazali wiederholt eine wichtige Trennung von „halq“ (Schöpfung) und „huluq“ (ethische Gesinnung): „Einige die zur Untätigkeit neigen, glauben, dass die Gesinnung (des Menschen) wie seine Gestalt unveränderbar sei. Dabei berufen sie sich auf die Aussage des Propheten – Friede sei mit ihm – : „Gott hat die Schöpfung und die Schicksalsbestimmung vollendet.“ Sie glauben nämlich, dass das Streben nach Veränderung der Gesinnung gleichzeitig eines nach Veränderung der Schöpfung des erhabenen und allmächtigen Gottes bedeutet. Dabei übersehen sie die Aussage des Gepriesenen (Muhammed): „Verbessert eure Gesinnung.“ (Al-Ghazali: ‚Das Kriterium des Handelns.‘ hg. Von Elschazli. WBG 2006, S. 130 (Kap. XII).)

b. Tilman Nagel zeigt, wie im Laufe der Koranauslegung Mohammed immer mehr Deifiziert wird, so dass sich eine Theokratie und Despotie herausbildet, welche die Sozialdisziplin von Gehorsam, Glauben, Fatalismus für die ‚Gläubigen‘ (den ‚Vulgus‘, die „Volksmassen“) durch die Klerikerkaste („Die Scharfsichtigen“ nach al-Gazali) predigen lässt. Der Koran ist darum unantastbar heilig, Mohammed von Allah geheiligt, und seine Anweisungen sind ewig gültig, weil Gottes Wort unantastbar ist genauso wie seine Ausleger. Beide Eliten erhalten ihre Macht, indem sie alles tun, um eine Zivilgesellschaft zu vermeiden.

Selbst ein so auf den Intellekt bauender Philosoph wie Alfarabi (gest. 950) kann bei guter Kenntnis der Staatstheorien Platons und des Aristoteles schreiben: „So muss dir klar sein, dass die Vorstellung von Philosoph, Höchster Herrscher, „ Prinz“ (Despot), Gesetzgeber und Imam nur eine einzige Idee ist.“ (Alfarabi, „Philosophy of Plato and Aristotle“, ed. Muhsin Mahdi, Cornell Univ. 2001: „The Attainment of Happiness“, Abs. 58, S. 47.) Diese Position wird etwa im 13. Jahrhundert Konsens. Der Islam hatte einen Klerus wie die katholische Kirche im Tridentiner Konzil: Nur er hatte kein Amsterdam oder England, wohin ein Bruder im Geiste Galileis hätte seine Schriften senden und drucken konnte. Der Koran wird nur handschriftlich überliefert! (Bis Anfang der 20ger Jahre!)

c. Die großen islamischen Aristoteliker zitieren auffallend wenig den Koran oder die prophetische Überlieferung. Die großen Philosophen wie al-Kindi, al-Farabi, Avicenna, al-Amiri und Averroes wurden vielleicht gerade darum von den Juristen, Theologen und Traditionalisten nicht anerkannt und rezipiert. – Der große Schatz des Islam zu einer eigenen Bewegung der Aufklärung hätte schon im goldenen Zeitalter, also seit dem 10. Jahrhundert, geborgen werden können. Er wurde verschüttet, und die Bedeutung der Philosophie hört seit 1500 etwa ganz auf. Nach der islamischen Tradition ist die Islamgeschichte seit dem Tod des letzten abbasidischen Kalifen 1258 zu ihrem Schlusspunkt gekommen. (vgl. A. Schimmel. IN: Al-Fadschr. Jg. 16, Nr. 93, 1999, S. 7) Die „Schließung des Tors“ (bab-ul- idjtihad) führt zur Erstarrung; Islamwissenschaft und Recht werden zur Auslegung des Dogmas. Umgekehrt im Abendland: Auf den Schultern der Scholastik (auch der Araber) wurde die Philosophie in der Renaissance mit Rückgriff auf die Antike erneuert, und aller Versuche, die neuen Ideen per Inquisition oder Index und Ketzerverbrennung seitens des katholischen Klerus zu verhindern, sind an dem Widerstand aufgeklärter Eliten gescheitert: Kepler und Newton, Einstein und die Quantenphysik lassen sich nicht mit der Bibel verbieten. Fatwas waren wirkungslos im Abendland.

 

6. Muslimische Tradition der ‚Aufklärung‘

 

a. Jawami al-kalim überliefert (7. April 1400): Der Prophet fragt: „O Herr, warum hast Du die Schöpfung geschaffen?“ Und der hocherhabene Herr antwortete: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte gern erkannt werden; darum habe Ich die Welt erschaffen.“
(A. Schimmel, ‘Gesang und Ekstase‘, 1999, S. 74): Von hier aus ist islamische Forschung als Wissensforschung in der Schöpfung gerechtfertigt. Dem steht gegenüber die immer starrer gewordene Forderung nach „salafiyya“: das Frageverbot als Lobrede auf die Antworten des Korans (nach Adonis in: Islam ,Demokratie und Moderne‘, S. 134).

b. Anknüpfung an die Bewegung der Mutaziliten:

Abu-Hamid Muhammad al-Ghazali (1058-111): ‚Der Erretter aus dem Irrtum.‘ (Ph.B.389)

A-Ghazali schreibt in der Einleitung, wie er sich nicht auf die „blinde Nachahmung des Imam“ beschränken möchte (wie die Batiniten), sondern wie er sich „mutig von den Niederungen der blinden Nachahmung (taqlid) zu den Höhen des selbständigen Erforschens“ hinentwickelt habe. (S. 3) (Al-Ghazali gilt gegenüber Al-Razi, Avicenna und etwa Averroes jedoch als ‚Traditionalist‘!)

„Ich prüfte also alle meine Erkenntnisse und fand mich bar jeder Erkenntnis mit dieser Eigenschaft, mit Ausnahme der auf dem sinnlich Wahrnehmbaren beruhenden Erkenntnis und der Denknotwendigkeit. Nachdem ich so an meiner bisherigen Erkenntnis verzweifelt war, sagte ich mir, dass sich eine Hoffnung, diese Probleme zu lösen, nur auf die Evidenz gründen können, nämlich die Sinneswahrnehmungen und die Denknotwendigkeiten.“ (S. 7)… Man begeht ein großes Verbrechen, wenn man glaubt, dass der Islam durch die Ablehnung dieser Wissenschaften zum Sieg gebracht werden kann. Denn das offenbarte Gesetz des Islam geht auf solche Wissenschaften nicht ein, weder positiv noch negativ, und diese Wissenschaften ihrerseits behandelt keine religiösen Themen.“ (S. 21) Man kann nicht nach dem Text des Koran entscheiden, „weil die endlichen Texte die endlosen Fälle nicht einschließen können.“ (S. 35)

Al-Ghazali hat eine Theorie des Zweifels, die man mit Descartes vergleichen kann; er hat auch eine mystische Wendung des „Herzens“, die mit Pascal zu verbinden ist.

Das Werk al-Ghazalis wurde um 1140 in Cordoba verbrannt, obwohl er den Sufi-Weg über die Ratio stellte. Man rechnet von da an den Untergang der spanischen Almohaden.

c. Al-Ghazali ist mit dem großen muslimischen Aufklärer Ibn Khaldun (1332 – 1406) einer Meinung, dass man zur Auslegung des Korans den Imam nicht braucht. Ibn Khaldun sagt bei aller Achtung vor dem Koran, dass die Philosophen sich „irren, wenn sie annehmen, dass das Prophetentum notwendig sei; denn das rationale Denken macht es nicht erforderlich.“(In seiner „Muqaddima“. Hg Alma Giese, Beck Vg. München 2011; auch Reclam, Leipzig 1992)

 

7. Ich-Identität

 

Würde der individuellen Persönlichkeit, Freies Handeln und Denken aus Autonomie, Zurechnung der inneren Verantwortung als ‚mein‘ Handeln: Das Ich als Begleiter meiner Vorstellungen, die darum „meine“ sind.

Ein Hauptstreitpunkt der christlichen mit der arabischen Scholastik ist die Frage nach dem Ich, der Unsterblichkeit des Individuums, die Frage nach der Substanz von Geist (Intellekt; Aristoteles: Nous poietikos, Nous pathetikos) und Seele. Die arabische Scholastik ist
mit Aristoteles einer Meinung, dass die Seele (Geist) nicht individuell unsterblich sei. Die muslimische Deutung verschärft den Ansatz: Die Seele geht ein in den Ozean der intellektuellen Welt wie ein Stück Zucker in das Meer. So diskutiert al-Ghazali z.B. in
seinem Buch ‚Widerlegung der Philosophen‘ zwanzig Fragen. Frage Nr. 18 lautet: „Die untaugliche Beweisführung darüber, dass die menschliche Seele als geistige Substanz in sich selbst existiere…“; Nr. 19: „Widerlegung ihrer Aussage, dass die menschlichen Seelen nicht vergehen könnten, nachdem sie einmal existierten“. (al-Gazali, S. 114f Anm. 85)

Der Disput wird europaweit in der Auseinandersetzung des Thomas von Aquin (in seiner Schrift: ‚Summe gegen die Heiden. Summa contra gentiles‘) über diese Frage mit Averroes (und Avicenna) ausgetragen.

Für die Christen ist klar: Gott hat im Opfer seines Sohnes jeden Menschen individuell erlöst. Die Seele ist nicht durch die Kraft und den Akt des Körpers bestimmt, wie Averroes (1126-1198) meint. Der Verstand ist individuell und nicht, wie Averroes meint, ein einziger für alle Menschen (Thomas v. Aquin: Gegen Averroes: „ostenditur non esse unum intellectum possiblem omnium hominum.“ Contra gentiles, Cap. 73). Er muss individuell das Gericht des Sohnes bestehen und sich dafür in der Welt so verhalten, dass er ins Paradies kommt. Dazu dient z.B. die Bußpraxis und die Beichte. Seine Seele ist individuell unsterblich.

Über 500 Jahre hat es im Abendland gedauert, bis man stufenweise die Verinnerung der ‚Persona‘ als Ich-Identität ins Bewusstsein genommen hat. Die evolutionäre Kultur-und Sozialforschung hat diesen Prozess nachgezeichnet. (Autoren etwa: J. Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln; Kohlbergs Moralstufen; Piagets Entwicklungsmodelle; Kittsteiner: Die Entstehung des Gewissens. Kobusch: Die Entdeckung der Person. M. Foucault: Die Sorge um sich. Regine Kather: Person. Richard von Dülmen: Entdeckung des Ich. Et al.) Im Laufe der Jahrhunderte hat sich eine Ambiguitätstoleranz herausgebildet, die gerade aus der Verunsicherung und Selbstfindung des Ich erwachsen ist. (Vgl. Kittsteiner und Th. Bauer, S. 394).-

Die individuellen Menschenrechte sind dem Menschen eigen als Wesen der Vernunft. Hier liegt ein großes Problem in der Tradition des Islam für die Gegenwart.

Diesen evolutionären Prozess hat die „Umma“ im Ganzen nicht nachvollzogen. Darum gelten Talionsrecht, Mannfall, Ehrenmorde, mangelnde Frauenwürde und die Höhergeltung des Kollektivs vor dem Einzelnen als Problem und stoßen bei nicht aufgeklärten Durchschnitteuropäern auf Verwunderung und Ablehnung. Ist der Koran unmittelbare Rede Gottes, so ist seine Wahrheit ein für allemal vollendet und darum auch gar nicht verhandlungsfähig. Dann gelten auch die barbarischen Strafen für die Ungläubigen.

Die IS-Terroristen schreiben in ihren Videos die Koranverse (Sure 47, 4): „Und wenn ihr denen begegnet, die ungläubig sind, - ein Schlag auf den Nacken, bis ihr sie niedergemacht habt; dann ziehet fest die Fesseln.“ Statt Andersdenkende zu exekutieren (‚murtaddun‘) sollte Idjtihad stehen, eine freie Auslegung des richtigen Lebens.

Solange diese (und viele vergleichbare: 5,33; Hadith (nach Dawud ): Steinigung; die Suren: 24, 2; 9,74; 4,34; 9,5; 8,60; 8,39; 8, 65) Koranverse gelten, wird man kaum den Satz durchhalten können, der Islam sei friedlich. Die Muslime müssen zeigen, dass die „Re-Islamisierung“ in Wahrheit eine ideologische Neugeburt des Islams darstellt, der die imperialen Strukturen des ‚Westens‘ aufnimmt, deren Werte aber im 21. Jahrhundert durch das Völkerrecht („Huquq al-Insan“!) völlig umformuliert wurden. (Vgl. Th. Bauer: ‚Die Kultur der Ambiguität‘. Berlin 2011, S. 52 u. S. 302)

 

8. Die Stellung der Frau im Islam

 

a. In Ägypten galt 1919 das Gebot der „Entschleierung“ der Frau. Schwarz als Frauenkleidung setzt sich erst in Mekka seit den 60ger Jahren durch. Das Personenstandsrecht wird (und wurde?) in Ägypten nach der Scharia ausgelegt: „In keinem Fall ging die Auslegung über das zweite islamische Jahrhundert hinaus.“ (Farag Foda, in: ‚Islam Demokratie und Moderne‘, München 1998, S. 171). Folglich blieb die Frau gemäß Sure 2,223 das „Saatfeld des Mannes“.

Das Thema läuft bei den Muslimen unter dem Motto: „Freiheit unter dem Schleier“. Der Schleier sei der beste Schutz gegen die Instrumentalisierung als Sexobjekt; nach innen biete er einen geschützte Schamzone und Sicherung der Identität der Frau.

Das mag für den Orient stimmen. In Deutschland ist der Schleier (Burka) ein Zeichen für Abgrenzung und Verweigerung der zivilen Kommunikation. H. Jonas und Lévinas haben in der Philosophie des Anderen gezeigt, wie wir unser Ich im Spiegel des Anderen aufbauen und mit Empathie beleben. Die Offenbarung des Antlitzes (Derrida) ist ein Zeichen für
die auratische Darstellung des Selbst in der Kommunikation mit den Anderen, auch der Zivilgemeinde.
Es ist für einen europäischen Mann, der nicht Muslim ist, eine kaum erträgliche Herabwürdigung, wenn ihm eine verschleierte Frau signalisiert, sie unterstelle ihm Voyeurismus, Sexismus, unkontrollierten Umgang mit dem anderen Geschlecht. Ist es der Mann, der seine Frau verschleiert, so gilt das für den Normalbürger als Gewalt und Chauvinismus. „Vermummung“ ist in Deutschland immer verbunden mit einer negativen Zielsetzung des Trägers.

Juristen geben zu bedenken (Hörnle), dass der Vollschleier die „offene Bürgergesellschlaft“ verleugne.

b. Das „Kopftuch“ hat für den Nichtmuslim einen gewissen humoristischen Aspekt: Muslime reagieren offenbar, so heißt es, besonders sexuell erregt auf Kopfhaare und den Halsansatz der Frau. Darum muss beides bedeckt sein. Männliche Europäer im Durchschnitt (statistisch) schauen auf Gesicht, dann von unten hoch auf Figur und Busen.

c. Die Sexdiskussion ist wohl nur eine nachgeschobene Debatte. Die Verschleierung weist auf viel tiefer Hintergründe. Einmal als Bedeckung vor dem Allerheiligsten in der Antike für Mann und Frau in vorislamischer Zeit. Dann aber aus psychologischen Gründen, die Fatima Mernissi (‚Islam und Demokratie‘, Freiburg i.Br., 2002) ausführlich darlegt unter dem Titel: „Angst vor dem Individualismus“ (S. 147 ff). Nach Ali (s.u. 8) hat die ganze Schleier-Diskussion gar keine echte Grundlage. -Nach F. Mernissi geht es um die Grenzsetzung der Gemeinschaft als Kollektiv gegenüber dem Bereich des „unkontrollierten Verhaltens“ (hayal). Hayal (ungezügelte Gefühle des Individuums) gilt für das Kollektiv der Stadt als chaotisch, aorgisch und grenzauflösend und führt damit zur Verunsicherung der grenzsetzenden Machteliten und somit vor allem der Männer. Die Umma verdrängt ihre vorislamische Zivilisation der Weiblichkeit. Die ‚Muttergottheiten‘, aber auch die tötende Gorgo und die männerverschlingende Meduse stecken in der ‚Frau‘ als Göttin „al-Uzza“ oder Venus, Ischtar. (vgl. Mernissi S. 164) Und noch bedeutender: Die Frau bringt über die Geburt des ‚Körpers‘ den Tod in die Welt (eda S. 173). Denn die Vernunft ist völlig geschieden vom Leib, ist „leidensunfähig“ nach Averroes (vgl. Thomas von Aquin, Contra gentiles, Cap. 69): Die Geburt vernichtet also die Einheit des Logos durch die Beschmutzung durch den Körper. Mit der Idee der Unsterblichkeit im Islam wird der Körper als Bestimmung, zu Staub zu zerfallen, zur Bedrohung; und mit ihm die Frau. Mernissi formuliert knapp und prägnant: „Der Islam wird den Arabern also im Tausch gegen ihre Unterwerfung (der Frauen) die Unsterblichkeit geben.“ (S. 176) Gegen die Imame (Ulama) habe der Westen und die aufgeklärten islamischen Eliten die Verantwortung, dass der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gelinge: „Ohne Masken, verletzlich und mit nacktem Gesicht, machen sie (die Frauen) sich auf den Weg, zum ersten Mal ohne Überwachung, in eine Stadt, wo alles sicher ist außer den Grenzen.“ (S. 197) Die Grenzen setzt bei uns das Grundgesetz und das BGB.

 

9. Fundamentalisierung und Öffnung

 

a. In den 6oger Jahren beginnt die ‚Refundamentalisierung‘ des Islam als Identitätssuche der arabischen Stämme gegenüber dem imperialen Westen. Die Politik der Abbasiden wird reaktiviert: Ritualfrömmigkeit und Talionsrecht; die wörtliche, eindimensionale Textauslegung durch die ‚Ulama‘, die Rechtsgelehrten und Geistlichen. (Vgl. Aziz Al-Azmeh: Die Islamisierung des Islam. Campus 1996) (Die Auslegungschancen nach Origenes, welche die Shia entwickelt hat, werden unterdrückt.) Westliche Methoden der Textkritik werden als „Offenlegung des Wissens“ kurzgeschlossen oder gar nicht rezipiert. „Nachahmung“ (taqlid) ist gefordert. (Goetze S. 356 ) Die Sharia greift auf die Auslegungen des 10. Jahrhunderts zurück. –

b. Greift man zu älteren Einführungen im Islam, erkennt man die verschütteten Traditionen: So tritt Maulana Muhammad Ali für einen sehr viel liberaleren Islam ein: „The Religion of Islam." (Lahore; 1936/1950/1971); im Hintergrund steht das Islamverständnis des geistigen Gründers Pakistans, Muhammad Iqbal (1877–1938). Zustimmend zitiert Ali den Ibn Khaldun, der kritisch anmerkt, dass die Koran-Kommentatoren ihre Texte mit Legenden gefüllt hätten. Shah Wali Allah erwähnt, dass viele jüdische und christliche Legenden ihren Weg in die Kommentare gefunden hätten. (M. Ali, S. 67). „Ijtihad“ ist eine Auslegungspraxis der Richter nach Vernunft mit Rücksicht auf Zweifelsfälle und schwierige Textstellen. Mit den Suren 2, 171 ; 7, 179; 25,44 seien alle „dumpf und blind, benehmen sich wie Vieh“, welche nicht den Verstand gebrauchen. (M. Ali, S. 81) Er stimmt den Mutaziliten zu, die nicht nur auf eine isolierte oder analoge Koranauslegung abheben, sondern mit verständigem Urteil entscheiden. Das Leben hat ein Ziel (also kein Fatalismus). (M. Ali, S. 232) Der Mensch hat
die Freiheit des Willens, die Offenbarung anzunehmen oder zu verwerfen. (M. Ali, S. 268)- Die berühmten ‚Jungfrauen‘ seien nach „hur“ benannt, das heißt „pure“: rein. Gemeint sei, dass alle Frauen bei der Resurrektion „gereinigt“ (als Jungfrauen) auferstehen. (M. Ali, S. 247)- Nach der Tradition gemäß al- Bukhari (gest. 797) haben Aischa und die Frauen und Kinder die Moschee gemeinsam mit den Männern besucht. Es gab auch keine Trennung der Geschlechter beim Gebet oder trennende Vorhänge. Die Frauen saßen in Reihen hinter den Männern, und das noch lange nach Mohammeds Tod. (M. Ali, S. 322) Mann und Frau seien gleichberechtigt.(M. Ali, S. 495) Die Frauen betraten die Moschee unverschleiert. Der Schleier sei ursprünglich ein Statussymbol. - Todesstrafe und Sklaverei seien unislamisch nach M. Ali (S.487). - Der Dschihad habe drei Anlässe: Kampf als Verteidigung gegen einen Feind; gegen den Teufel; und gegen die Triebforderungen des eigenen Selbst (‚nafs‘). (M. Ali, S. 450)- Interessant ist: M. Ali hat überhaupt kein Verständnis für den europäischen Staat. Der verehre nur „idols“: den Mammon. (M. Ali, S. 624)

Die Selbstaufklärung des Islam aus eigener Tradition ist sehr wohl möglich!

c. Einen eigenen Ansatz bietet Mahmoud Bassiouni: ‚Menschenrechte zwischen Universalität und islamsicher Legitimität.‘ (stw. 2114, 2015). Er weist wie wir auf das Identitätsproblem des ‚Ich‘ als Individualität: mit Muhammad Sid Ahme: „Menschenrechte sind ein Ausdruck der Identität, des Selbst, und darin liegt die große Krise.“ (S. 31) Das öffentliche Recht als Staatsrecht hat keine Tradition. (S. 69)

Bassiouni geht von den grundlegenden Bedürfnissen anthropologischer Existenz aus, sucht sie in den ‚maqasid‘ (‚Zwecken‘), als Bedingungen menschlicher Existenz gemäß dem Koran und begründet ihre Legitimität. Damit gelingt eine Brücke zur Verbindlichkeit der allgemeinen Menschenrechte. Sein Ansatz ist für gläubige Muslime sympathisch, weil man von den eigenen Werten ausgehen kann.

Unabdingbar gilt aber in der gegenwärtigen Diskussion mit Ayaan Hirsi Ali (‚Reformiert Euch!‘. Vlg . Knaus 2015) (und Zuhdi Jasser i, S. 272): „Staatliches Recht muss auf der Vernunft und nicht auf Schriftexegese basieren und vernünftig diskutiert werden.“ Kants „Wage zu wissen!“ sollte bei den Geistlichen des Islam nicht mehr Angst erzeugen: Sie haben eine Tradition der Vernunft!

(Dr. R. Schönsee, Sprecher des Philo-Zirkels in der ‚Patriotischen Gesellschaft von 1765‘. Vgl.: www.philozirkel-hamburg.de)