Angst vor dem Geist

Anregungen für das Kulturgespräch im Philo-Zirkel

von Reinhart Schönsee (Juni 2021)

 

  1. Die Pandemie öffnet den Blick auf die aktuelle Kulturszene und macht ihre Profile deutlicher. Jan Bachmann weist auf die Pfingstfestspiele in Salzburg hin als einen „Leuchtturm“ des „freien Geistes und wahrhafter Anmut gegen die Versuche der politischen Verzwergung . … Ohne plakative Aktualisierung“; statt „identitäre Sperrgitter“ aufzurichten, findet eine „Stärkung der Überlieferung statt“ ohne „deren Denunziation.“ (FAZ, 25.5.21) Das ist ein Stich gegen das veraltete Regietheater und seine Kombination  mit postdramatischen Mitteln. Er fragt besorgt: „Wie wird die Zukunft aussehen, nachdem die klassische Musik in der Pandemie an Wichtigkeit den Friseuren nachgeordnet worden ist? In einer Zeit, da in Rundfunkredaktionen und Staatskanzleien zum Kesseltreiben gegen die exklusive Barriere freie ‚Hochkultur‘ geblasen wird und man den Kanon unter Diskriminierungsverdacht stellt? Wehmut liegt in der Luft.“ (FAZ, 27.5.21) Die Phänomene sind uns im Philo-Zirkel aufgefallen. Wir haben versucht sie zu verstehen als ‚Angst vor dem Geist’, vor dessen Anforderung in der ‚Hochkultur‘.

  2. Diese ‚Angst’ begegnet auch in hochkarätigen, philosophischen Veranstaltungen. Die Quantenforscher Frido und Christine Mann als Herausgeber des Bandes ‚Im Lichte der Quanten‘ (2021) haben als erstes Kapitel: ‚Die Geistige Grundlage unserer Welt?‘, und sie beantworten die Frage quantentheoretisch mit der Erkenntnis einer einheitlichen Grundlage von „Geistigem, Energie und Materie.“ (S. 8) Im Vorwort zu ihrem Buch schreiben die Herausgeber Mann (S. 7): „Bei öffentlichen Lesungen aus unserem ersten Buch wurde deutlich, dass der Begriff Geist oder das Geistige leicht Widerstände erzeugt.“

  3. Für uns im Philo-Zirkel entstand die Frage: Warum haben Menschen vor dem ‚Geistigen‘ Angst? In der Engführung lautet der Frage: ‚Warum erzeugt das ‚Geistige‘ im ‚ästhetischen Raum‘ bei Menschen Angst? Unser Feld war die Kunstszene in ihrer Erscheinung als ‚Kulturindustrie‘ (Adorno) der monopolisierten Finanzinteressen der wenigen großen Galerien und Auktionshäuser in der ‚56. Biennale‘, Venedig 2015, als „gigantische Geldmaschine“ (/ = ‚Geistvernichtung‘ ), (Vgl. ‚Kunstforum‘ , Bd. 233/234, S. 35, S.91, 93). Durch klassische Titel (z.B. ‚Faust‘ in der ‚57. ‚Biennale‘, 2017) werden die Performances aufgeladen mit einem gewaltigen Katalog als intellektuellem Überbau.  (Vgl. ‚Kunstforum‘, Bd. 247, S. 231ff)

Mit dem ‚erweitertem Kunstbegriff‘ (Beuys) ist alles Kunst, was so genannt wird, und auf dem Markt einen Preis hat oder in den Museen (auch ‚Documenta‘, ‚Biennale‘ z.B.) eine Aura erhält. Qualität wird in Analogie zu den ‚Clicks‘ und ‚Likes‘ als Quantität der Summe, die bezahlt wird, gewichtet.

  4. ‚Geist’ bringt von vornherein einen moralischen Imperativ mit sich: Der Mensch als „der erste Freigelassene der Schöpfung“ (Herder) weiß, dass  Sprache, aufrechter Gang und die Ersetzung seiner organischen Mängel durch den Geist seine elementare Identität als Gattung ausmachen. Darum ist in einer modernen Zivilisation ‚Geist haben‘ eine Teilhabe an der Gattung; ‚Geistlosigkeit‘ weist auf einen Mangel, der als Vorwurf verstanden wird. Ist der Zugang zum ‚Geist‘ durch soziologische, kulturelle oder  bildungstechnische  Barrieren verschlossen, wie z. B. der Zugang zur Quantenphysik, dann liegt das vor, was Thomas Fuchs und Stefano Michali (in ‚Angst.‘ , hrsg. von Lars Koch, Metzler 2013, S. 51) feststellen: Die „Grundstruktur“ der Angst sei „die Hemmung eines Fluchtimpulses angesichts einer Bedrohung“; diese „Existenzbewegung“ ereignet sich auch im „symbolischen Raum“ der Kunst. Es ist eine doppelte Bewegung (als Fluchtimpuls und Hemmung – ‚gehemmter Widerstand’); beides zusammen kann im Fluchtimpuls zu Minderwertigkeitskomplexen oder zur Überkompensation führen. Diese Gefühle können leicht in Aggression oder Hass auf ‚Intellektuelle‘ und ‚Gebildete‘ umschlagen. Die erlebte Anforderung eines hohen Bildungsstandards (nach Bourdieu) führt zu Forderungen nach Herabsetzung der Zugangsbarrieren, wobei der mögliche Kapitalmangel leichter auszugleichen ist als der Bildungsmangel. Nach Bourdieu sind der Umgang mit Distanzierungen und Kulturfertigkeiten noch immer zuerst an die familiale Kompetenz der Erziehung gebunden.

  5. Das Problem der Akkumulation des Bildungskapitals

Die Barrieren vor der Hochkultur sind leicht zu erkennen. Der eine übt Geige, während der andere Fußball oder ‚Games‘ spielt. Bei einigen gehört das Lernen unregelmäßiger Vokabeln zum Alltag, die andern wollen Spaß. Diese ‚Bildungsvoraussetzungen‘ sind in der Regel nicht sofort kommerzialisierbar; darum fragt die bildungsferne Szene: ‚Wozu soll man das lernen?‘ Kurz, Bildung setzt eine Sozialisation voraus, die anhält – ‚Gratifikationen aufzuschieben‘ (Parsons), um später einen höheren Genuss (der Kunst) zu haben; das bedeutet: Disziplin, Askese und Freude an dem Umgang mit Problemen und Texten, die den Geist fordern. (Hegel nennt das die ‚Anstrengung des Begriffs‘). Die anderen haben alles auf dem Smartphone.

  6. Warum also ‚Angst vor der ‚großen Kunst‘ der ‚Hochkultur‘?

Jedes Kunstwerk hat eine ‚Appellstruktur‘ (Iser) und verlangt daher eine Konstitutionsleistung vom Rezipienten. Er muss dem Kunstwerk ‚auf Augenhöhe‘ begegnen und den ‚Appell‘ innerlich umsetzen können. Die saloppe Formulierung dazu lautet: ‚Bildung ist, was übrig bleibt, wenn man vergisst, was man gelernt hat’. Wo die kulturelle Kompetenz vorliegt, bleibt beim Vergessen ein entsprechend großes Kapital übrig. (Zu Klasse und Bildung vgl. Pierre Bourdieu: ‚Der feine Unterschied‘.)

Wer in Anforderung der Hochkultur ungeübt ist, tritt unsicher über die Schwelle des Kunsttempels; vorausgesetzt, die Unsicherheit entspringt aus der unbewussten Angst vor dem ‚Geist des Werks‘. Das Rudelgucken, der Kreuzfahrttourismus zu den Museen und den kulturellen ‚Locations‘ sucht den unmittelbaren sinnlichen Reiz in wiederholter Reihung. Beim Ausgang versichert das ‚Selfie‘ wo man war. Hier liegt gar kein Geist vor, der zu fürchten wäre. Darum werden die Museumsshops oft wichtiger als die Bilder.

Adorno schreibt zur ‚Krise der Kunst‘ in seiner ‚Ästhetischen Theorie‘ (Wke 7, S. 228):  Das Eine im Vielen als Ganzes prägt den „metaphysischen Gehalt“ des Kunstwerkes: „Daß das Geistige eines Kunstwerkes soviel sei wie die Konfiguration seiner Momente, besticht nicht bloß, sondern hat seine Wahrheit gegenüber jeglicher plumpen Verdinglichung und Verstofflichung von Geist und Gehalt der Werke.“ Gegenüber der Durchsetzungsmacht der „Produktivkräfte“ mit dem Zweck struktureller Ausbeutung und Entfremdung müsse sich das Subjekt zu seiner „Selbsterhaltung“ das „Leben als Selbstzweck“ bewahren. (‚Negative Dialektik‘ (ND), 1970, S. 340) Eine Tiefendimension der Angst in unserer Kultur wird bei ihm Thema: Begleitet wird der Prozess der ‚Kulturindustrie‘ durch die „Dauerpanik angesichts des Todes“. Die Veranstalter reagieren beschwichtigend mit „Verdrängung.“ (ND, S.361)  Es geht um die Entlarvung der „Fetischisierung“ der Kunst-Mittel als Zwecke im „Gewand der Metaphysik als Ideologie“. (vgl. ND, S. 341) Gegenüber dem populären Existenzialismus der 50er Jahre macht Adorno geltend: Heidegger mache „die Destruktion respektabel als Veranstaltung, ins Sein zu dringen.“ (ND, S. 359)

  7. Zur idealistischen Tradition der ‚Ästhetik‘

Die idealistische Ästhetik der ‚Hochkultur’ auf der Grundlage Kants, Goethes, Schillers, Hegels bleibt in jeweiliger Umsetzung im Zeitgeist bis heute wirksam.

a. Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ (KdU) weist auf ein „Geistesgefühl“ (in der ‚Ersten Einleitung‘), das in der ästhetischen Erfahrung ins Bewusstsein tritt: Das ist ein „Gemütszustand“ „ohne Begriff“. Es ist „ein Gefühl des freien Spiels der Vorstellungskräfte“ (KdU § 9). Das Urteil über die „freie Schönheit“ ist „rein“, weil „kein Begriff von irgendeinem Zwecke…vorausgesetzt“ (ist). Die Phantasie, die „Einbildungskraft“, kann in ihrer vollen „Freiheit“ ohne Einschränkung mit dem Objekt (der „Gestalt“) „gleichsam“ spielen. (§16) Die ‚Erkenntnisvermögen‘ halten sich also ‚in der Schwebe‘, weil sie weder durch Logik noch Ethik oder Existenzfragen berührt werden. (§16) „Achtung“ liegt allen drei Kritiken Kants zu Grunde. Die idealistische Ästhetik liegt also jenseits von „vulgärer Sinnenlust“. Wer das Feld der Ästhetik betritt, ist von allem Stress des Tages abgeschirmt. Das Übel der Welt bleibt draußen und die Utopie einer reinen Humanität wird möglich.

b. Eine zweite Kunsterfahrung tritt dazu, die ich am Beispiel Goethes festmachen möchte:

Dazu muss man wissen, dass Goethe das Subjekt des Forschers direkt in die experimentelle Forschung konstitutionell mit eingefordert hatte. Er war etwas stolz darauf, dass ihn ein Physiker gelobt hatte, er sei der erste, der das Subjekt in die Physik eingeführt habe.  Allerdings verbindet er diese Einführung mit einer strengen, moralischen Forderung: Der Forscher muss allen Vorurteilen, Hypothesen, subjektiven Interessen ‚entsagen‘. Die ‚Entsagung‘ hat eine gewisse Nähe zu Kants Bedingung des ‚freien Spiels‘ und der Form der Zweckmäßigkeit ohne Zweck. In Analogie zum Forscher gibt das „Genie“ nach Kant „aus Natur der Kunst die Regel“, wie der Forscher dem Experiment. Beides reklamierte Goethe für sich.

Goethe schreibt an Schlosser sein „allgemeinen Glaubensbekenntnis“ (‚Brief‘, WA IV, 25, 19. Febr. 1815, S. 311f); ich gebe es etwas freier wieder): „Natur“ (‚Materie‘/ Inhalt) und „Subjekt“ sind verbunden im Kunstraum zu einem ‚Subjekt-Objekt‘. Allerdings muss eines hinzukommen: Die bloße Analyse der Akkorde, der Partitur oder der Ikonologie eins Kunstwerkes reicht nicht, um das ästhetische Momentum zu fassen. Es wird immer noch „etwas drüber“ gefordert und kann nur „geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt.“

Adorno scheibt, als wolle er Goethes Glaubensbekenntnis noch einmal erklären: „Um Geist zu sein, muß er wissen, daß er in dem, woran er reicht, nicht sich erschöpft; nicht in der Endlichkeit, der er gleicht. Darum denkt er, was ihm entrückt wäre.“ (Er sagt das in Anlehnung an Kants Metaphysik.) Weil das Geistige eines Kunstwerkes jenseits „jeglicher plumpen Verdinglichung und Verstofflichung“ liegt, hat es auch bei Adorno seine „Wahrheit“ im „etwas drüber.“ Ganz wie Goethes Subjekt muss bei Adorno das „Ich“ auf dem Niveau der Anforderung liegen: „Das Ich muß geschichtlich erstarkt sein, um über die Unmittelbarkeit des Realitätsprinzips hinaus die Idee dessen zu konzipieren, was mehr ist, als das Seiende.“  (N.D S. 387: (gegen Heidegger.) Aus Beethovens Musik folgt: „Subjektiv befreite und metaphysische Erfahrung konvergieren in Humanität.“ (ND, S. 387)

  8. Zur praktischen Kunsterfahrung:

(Vorneweg: Geisterlebnisse müssen nicht ästhetisch sein: Nahtoderlebnisse etwa, aber auch ein großer Schmerz, der plötzlich den eigenen Leib wie ein Röntgenbild erscheinen lässt als ein schwarzes Skelett, und die  vielen gut belegten Schlüsselerlebnisse  beim Durchbruch zu der entscheidenden Formel bei Physikern, Mathematikern  und Philosophen belegen das.)

a. Goethe sagt: „Jeder große Künstler reißt uns weg, steckt uns an“. (Max. Refl. Nr. 1115). Antonio im ‚Tasso‘ (v. 731f) erklärt das ‚Geistesgefühl‘: Tassos Dichtung wühlt wie „Wahnsinn“ in ihm, „doch im schönsten Takt.“ Er fühlt sich „begeistert wie ein Verzückter“; er kennt „Weder Zeit noch Ort…Das seltne festliche Gewand des Schönen/ Versetzt mich aus mir selbst in fremdes Land.“ - Die Musikkritikerin Verena Fischer-Zernin nennt das (HA 10.5. 21): „Eintauchen, Überwältigtwerden, Transformation.“

Die Kunsterfahrung ist eine ‚Grenzerfahrung‘; sie steht in der Schwebe (vgl. Kants ‚freies Spiel‘) zwischen Dasein und Sein. Die ‚Versetzung aus mir selbst‘ ähnelt einer ‚Nahtoderfahrung‘ und öffnet für einen ungemessenen Zeitmoment ein Fenster in die Transzendenz, die man den Geistbereich nennen kann.  Goethe entwickelt das Erlebnis aus seiner Erfahrung der ‚Urphänomene‘ (Max. Refl. Nr. 412): „Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich in Erstaunen.“ Ich füge an: In ihrer gehemmten Flucht werden sie auch aggressiv, setzen das Erhabene herab, denunzieren Moder zerstören gar das Kunstwerk. Die Intellektuellen nutzen nach Goethe „den Kuppler Verstand“ und rationalisieren die Angst hinweg.

Im Musikerlebnis z.B. kann es geschehen, dass Quartett und Publikum für eine ungemessene Zeit gemeinsam atmen. In diesem Prozess, in Verbindung von innen und außen, gewinnt man das ‚Geistesgefühl‘ einer gemeinsamen Öffnung auf die ‚Geistebene‘, den ‚Mundus intelligibilis‘. Dazu ist aber ein relativ homogenes Publikums nötig, das eine große musikalische Erfahrung (bzw. Textkompetenz) hat. (Weil das in der Eventkultur fehlt, reißen die internationalen Quartette am Werkende ihre Bögen hoch, so dass auch der Kreuzfahrttourist weiß, wann er klatschen darf.)

b. Eine zweite Wirkung tritt hinzu: das große Kunstwerk hat einen Sog. Es „reißt“ den Betrachter wie ein Magnet in sich hinein. Nach einer zeitlosen Überwältigung spuckt es ihn wieder aus; er erwacht wie aus einer kleinen Ohnmacht und steht wie neu vor dem Werk. Winckelmann formuliert die Paradoxie des Schönen: Das Schöne sei „wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist.“ Was uns „wegreißt“, ist hier nicht das ästhetische ‚freie Spiel’, sondern, wie Goethe  mit Winckelmann sagt, das Erlebnis einer ‚Vitalkraft‘, die sich als ausbalancierte harmonische Gewalt als Erscheinung darbietet vor ihrer Umsetzung in die Wirklichkeit.  Goethe nennt das mit Winckelmann ‚Ruhe in der Kraft‘. Das „freie Schweben“ nach Kant (7. a.) nennt Winckelmann eine „redende Stille.“

  9. ‚Dekonstruktion‘

Nach ‚68‘, im Prostest gegen das Polizeiregime des Schahs als Marionette der Ölinteressen des Westens, als moralischer Aufstand gegen den Vietnamkrieg und bei der Aufarbeitung der verdrängten Schuld des Holocaust, vollzog sich eine Kulturevolution im Studentenmilieu, die weit in den Alltag eingriff.  Eine ganze Bibliothek des intellektuellen Überbaus begleitete die ‚Teach- ins‘ und ‚Sit- ins‘.  Über Benjamin kam das „Collège de Sociologie‘ (1937- 39) mit der ‚Kritischen Theorie‘ in Beziehung. ‚Dada‘-Formen und Elemente des ‚Surrealismus‘ traten ohne deren inhaltliche Ideologie auf in Performances der Protestkultur und im Theaterwesen. (Artaud und Bataille wurden wieder entdeckt. Vgl. Tristan Tzaras ‚Dada-Manifest’ von 1918 zum „Dadaistischen Ekel“.)

Die Regisseure des ‚Regietheaters‘ ergriffen den Zeitgeist in einer Engführung. Das bürgerliche Theater sollte dekonstruiert werden, um den ‚Verblendungszusammenhang‘ (Adorno) zu zerstören:

Man entlarvte die ästhetische Tradition als Fälschung des Scheins und seiner Ideologie. Man hatte die Machtbauten der Kunst als Glanzbauten der ‚Belle Epoque‘ vor Augen. Der Bourgeois trat ein in einen festlich-teuren ,geschlossenen ästhetischen Raum, der nach der Klassik-Ideologie völlig frei war von Gier, Börsenjobberei, Entfremdung und Ausbeutung. Im ‚interessenlosen Wohlgefallen‘ konnte man die Utopie als eigene Humanität feiern und im Austritt aus dem säkularisierten Tempel als Gourmet ins gepflegte Restaurant gehen. Also musste diese Spiel-Ideologie als Prachtschleier der Entfremdung zerrissen werden. Zum anderen: Die neue Kunst darf auch nicht ‚wegreißen‘, denn die Kraftspende aus Lust vernichtete die Aufklärung (Belehrung war angesagt). Fabriken werden für dieses Theater der richtige Ort.

Daraus folgt: Pathos sei zu vermeiden. Entsprechend war die Apotheose als Erfahrung des Geistes, den der Schluss bildet, auszuschließen. Die Tragik als Bedingung der Versöhnung und Humanität war gestrichen. Die Dekonstruktion musste so erfolgen, dass der Bildungsbürger im Schock und Skandal seine eigene Borniertheit erkennt.

Man stellte also den Zynismus und die strukturelle Gewalt des Kapitals aus, indem man die klassischen Stücke auf diese Dimension reduzierte. Der Pferdefuß war die klassische Textgrundlage: Was man vernichtete, trat in seinem Gegensatz besonders in Erscheinung. Die Dekonstruktion funktionierte ja nur, wenn das Publikum den heilen Text gut kannte, also das Bildungsbürgertum im Theater saß. Das Kennwort aller Kritiker ist bis heute das Lob: Die Aufführung sei „verstörend“.  Der Satiriker Harald Martenstein stellt fest: „Wenn die Leute gerührt sind oder glücklich, kannst du einpacken außer in Hollywood. Wenn die Leute verstört sind oder verärgert, machst du es richtig. – Verstörung ist das neue Schöne.“ (In ‚freunde‘, 02. Herbst 2014, S.13) Die ‚Angst vor dem Geist‘ der großen Texte und ihrer Wirkung vernichtet die Tröstung als Hoffnung auf eine gelingende Humanität. Der Schluss ist Blackout. 

Nun geht niemand ins Theater, um ‚verstört‘ zu werden. Die Bourgeoisie genießt immer gern die Lust an dem eigenen Untergang in ihren ästhetischen Tempeln. (Schon die ‚Belle Epoque‘ ging in die Oper und las Zolas ‚Nana‘ oder verfolgte die Börsenjagd bei Balzac.)  Der ‚kleinbürgerliche‘ Abonnent war nach meiner Beobachtung auch nur bedingt verstört: Ganz hamburgisch sagte einer in der Loge: Das ist ja „putzig“ und erhielt die Antwort: „Ja, aber ist ja mal was andres.“

Ich füge hier eine Formulierung Adornos zur ‚Verstörung‘ ein, die zeigt, wie viel komplexer seine Theorie ist im Gegensatz zu ihrer Umsetzung im Theater:

„Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist, wie bei Kafka, inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach deren Prinzip.“  (Es gilt den „universalen Verblendungszusammenhang“ aufzureißen. (ND. S. 393/ D. 395) Dazu stellt er die Forderung: „Das Bedürfnis im Denken will aber, daß gedacht werde. Es verlangt seine Negation durchs Denken, muß im Denken verschwinden, wenn es real sich befriedigen soll, und in dieser Negation überdauert es… Solches Denken ist solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.“ (ND, S. 397f, letzter Satz.)

Parallelen liegen in der bildenden Kunst. Aktuell setzt der Kritiker Georg Imdahl in die Überschrift (FAZ,19.05.21) zu den Werken der Amelie von Wulffen in den ‚Kunst-Werken‘ Berlin: „zerstörte Träume…mit verstörenden neuen Bildern“. „Zwischen den Beinen der ‚Biene Maja‘ ergießt sich eine Lache aus Acryllack, sie kann den Honig nicht halten.“ V. Wulffen deutet mit „bildungsbürgerlichen Anspielungen“ auf den „moralischen doppelten Boden der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ hin. Sie zeigt „einen grundsätzlichen Ekel vor dem Zustand der Gegenwart “ an. Ganz offenbar zeigen sich Elemente des post-dramatischen Theaters und die Schmerzvisionen kruder Körperlichkeit.

‚Der Skandal ist die Kryptowährung der Avantgarde‘: Die Dekonstruktion musste sich immer wieder selbst überholen, um große Presse zu haben. Mit dem Zuwachs der Eventkultur wollte das Medium Theater neues Publikum gewinnen und digital seine Grenzen ausweiten: Beamer, Mikros, Lausprecher, Monitore, die in ihrer digitalen Steuerung den Schauspielern die Spielzüge vorgaben, machten die Bühne zum Kaleidoskop für eine disperse Aufmerksamkeit. Es war immer was los. (Außer bei Marthaler: da schliefen Schauspieler und Publikum gemeinsam.) Die Schauspieler als Künstler der lebendigen Bühnenpräsenz verschwanden immer mehr hinter dem ‚Cordon‘ der Apparate. Eine Stimmung von ‚Entertainment‘ zog ein. Dazu Adorno: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus.“ (Dialektik der Aufklärung‘, 1969,
S. 145)

  10. Das ‚post-dramatische Theater‘

Ein Blick auf das ‚post-dramatische Theater‘ (Hans-Theiß Lehmann hat die Elemente zusammengefasst (1990). Dietrich Diederichsen hat in seinem Buch „Köpertreffer, Zur Ästhetik der nachpopulären Künste‘ (2017), den Begriff der „Index-Ästhetik“ eingeführt, der zur Benennung der Wirkstrukturen sehr gut taugt. Was die ‚game-affinen’ Jugendlichen längst beherrschen, findet sich auf der Bühne: „Schnelligkeit, Direktheit und Gewalt.“ Wörter sind ein Sammelsurium des Zufalls, die mit einem ‚Index‘ versehen werden, der dann als krude Realität ein Objekt in den jeweiligen Raum stellt. Die Indexierung setzt Zeichen direkt um in die Sachen. Die Aura wird mediatisiert: nicht der ‚Schauspieler‘, sondern die natürliche ‚Person per se‘ ist Agent.  Darum kann man auch Laien gerade in ihrer Laienhaftigkeit ausstellen. Die Indexierung macht die Elemente zu einem Warenkorb, der in sinnloser Folge ausgeschüttet wird. Die Bildreize, die Reihen der ‚Clicks‘, führen zu einer Art „Versiegelung der Erfahrungswelt durch Bilder.“ (Diederichsen, S. 30). Es geht um ‚Entsublimierung‘ (Marcuse) als Sofort-Gratifikation und Reduktion auf reine Körperlichkeit. Narrative gibt es nicht, weil immer alles in Sekundenrealität ‚da ist‘ und ‚weg ist‘. In der „Umkehrung des Brechtschen V-Effekts“ (Diederichsen, S. 46) wird das theatralische Requisit zur direkten Realität: Fleck am Kostüm wird Dreck am Körper; gespieltes Kauen wird zum „absolut reinen Kaugummi“. (eda.)

Das Regietheater erhielt in den letzten Jahren das Etikett beigefügt als „Ekel-Theater“ und „Schreitheater“. Im postdramatischen Kontext wird das zu ‚Kotze‘ und ‚Geschrei‘. Die beiden Theaterformen überlappen sich.

Aus den vielen Beispielen wähle ich die Aufführung des ‚Sturm‘ „nach“ Shakespeare im Deutschen Schauspielhaus Hamburg (Premiere 23.1. 2014) in einer Spielfassung der Regisseurin Maja Kleczewska. Prospero, fett und todkrank, großartig gespielt von Josef Ostendorf, kotzte und rülpste mit grandioser Technik ins Parkett. Caliban trat auf als nackter Mann, Penis und Schambereich verschmiert mit pechschwarzer Farbe. Es war eine Aufführung für mich mit Ekel und herrlichem Klamauk. Am Ende schoss Prospero mit einem Revolver ins Publikum: Peng! Blackout. – Adaptionen großer Titel schafft Aufmerksamkeit im Kulturbetrieb. (vgl. ‚Biennale‘, deutscher Pavillon, 2017: ‚Faust‘). Die Resilienz des Urtextes lässt sich auch bei Dekonstruktionen nicht vernichten.

 Beide Theaterformen sind im Grunde Schnee von gestern. Dennoch fällt er als vermeintlicher Neuschnee beim ‚Berliner Theatertreffen‘ (FAZ, 18.05.21). Irene Bazinger schreibt in ihrer Rezension der Gruppe ‚Gob Squad‘ beim ‚Berliner Theatertreffen‘ (FAZ, 18.05.21): Das Stück „Show Me a Good Time‘ „besteht aus spontan wirkenden Erzählfragmenten.“ (Die Indexierung schlägt durch). „Lebenshilfe…Dilettantismus… Bastian Trost stolziert erst nackt auf der Bühne herum.“ Die Rezensentin schließt: „Seit fast dreißig Jahren gibt es die Gruppe mit ihrer rotzfrechen Avanti-Dilettanti-Masche nun schon (FAZ vom 25. März), sie sind Veteranen des postdramatischen Theaters, das einmal die Bühnenwelt aus den Angeln heben wollte. Aber nichts ist so überholt wie das Zetermordio von vorgestern.“ Uns begegnen die alten Formen des Regietheaters jetzt in einigen Premieren im Akademietheater in Wien (Vgl.  Matin Lhotzky, FAZ, 26.05. 21).

  zu 9. Nachtrag: ‚Angst um den Geist‘

Die ‚Angst vor dem Geist‘ ist im Grunde ein Nebenschauplatz. Eine viel größere Szene fordert auf zur ‚Angst um den Geist‘. Wir sehen, wie sich eine Eventkult mit der Hochkultur verbindet mit einer hohen Kapitalakkumulation ihrer Rezipienten. Diese lassen die   Staatsinstitutionen beiseite und wandern in private Felder aus. Neue Formate als ‚Streaming‘, Monitoring, digitale Produktion der Kultur-Gebrauchswerte unterliegen verschleiert den Bedingungen des ‚Überwachungs-Kapitalismus‘. (Zuboff) Die traditionelle ‚Hochkultur‘ wird gegenüber ‚Spaß- und Event‘- Kultur, der Blockbuster-Akustik und den ‚Games-Spielen‘ zu einer Nischen-Veranstaltung mit staatlicher Förderung.

 Die Menschen in der digitalen ‚Matrix‘ leben zufrieden in völligem ‚Geistverlust‘. Die Falschmünzerei der Begriffe suggeriert, sie lebten in der ‚Brave New World‘ Huxleys. ‚KI‘ ist als Musterabbildung ihre Intelligenz; ‚tiefes Lernen‘ als das Schichten von Mustern, Reihen und Serien gilt ihnen als ‚Erkennen‘. Gern liefern sie ihre Autonomie an die Roboter ab. Nie waren sie weniger autonom als beim ‚autonomen Fahren‘. Sie leben im Glück des betreuten Wohnens mit ‚Alexa‘. Ein Filmstill aus Hito Steyerls „This ist the Future (2019) lautet: „The neural network is predicting what I will look like.“ Der Körperpanzer der medialen Umgebung – ‚Clicks‘ im Handy und die Selfies garantieren ihnen ihre Ich-Identität im ‚Cordon digital‘. Dazu tritt der „Frenetische Tanz der Avatare“ (FAZ, 20.5. 21); die ‚Games‘ erzeugen Machtgefühle und werden im Erlebnis der Unverfügbarkeit der realen Welt zur Sucht.

Noch einmal Adorno: „Die nach dem Stand der Produktivkräfte überflüssige Anstrengung wird objektiv irrational, darum der Bann zur real herrschenden Metaphysik.“ (N.D. 341)

Das Theater hat keine Chance, den ‚Cordon digital‘ des ‚Mainstreams‘ zu durchbrechen. Auch kein Shakespeare kann wie bei Huxley aus der Matrix erlösen. Der ‚Geist‘ macht keine Angst, weil er fehlt.

Das Theater braucht einen Neustart. Die Burgschauspielerin Birgit Minichmayr wünscht sich mehr „Achtsamkeit“. (FAS, 23.05.21) Ich wünsche mir eine Besinnung auf das ‚Geistesgefühl‘ (Kant) der Humanität: ‚Achtung‘: Achtung vor dem Publikum, Achtung vor den Schauspielern und Achtung vor dem Text. Vor allem aber brauchen wir eine Intendanz und Regie, die Goethes „etwas drüber“ versteht und lebt.